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V. Englische Philologie
Von Geh. Reg.-Rat Dr. Alois Brandl, Professor an der Universität Berlin


Das Studium des Englischen an den Universitäten hat in den letzten Jahrzehnten eine gewaltige Wandlung durchgemacht, wie kaum ein anderes Fach. Durch die modernen Verkehrs- und Wirtschaftsverhältnisse ist unser Volk mit dem britischen, zum Teil auch mit dem der Vereinigten Staaten in eine so enge und wetteifernde Berührung gekommen, daß die Folgen selbst in den philologischen Hörsälen fühlbar wurden.

Bis zu den achtziger Jahren war die Anglistik wesentlich eine mittelalterliche Sprach- und Literaturwissenschaft. Mit einer gewissen Vornehmheit hielt man sich an die frühesten Jahrhunderte, studierte in der reichen angelsächsischen Überlieferung die Reste des Germanentums, ging in den mittelenglischen Denkmälern den Idealen des Rittertums nach und verfolgte in Chaucer und dessen Schule die Anfänge der Renaissance. Man schrieb Textkritik wie von altklassischen Autoren, gab Handschriften kritisch heraus und hoffte allmählich durch genaue Sprachuntersuchungen die Geburtsstätte jedes Denkmals ergründen zu können. Vorlesungen über Shakespeare galten bei den Strengen bereits als Übergang zu schöngeistiger Tätigkeit; vollends stieg ein ordentlicher Professor nicht bis ins neunzehnte Jahrhundert herab, sondern überließ dies späte Gebiet samt der ganzen lebenden Sprache und Kultur dem Lektor. Es war Sitte, in der Doktorsprüfung nicht über 1500 herabzugehen – im Staatsexamen mußte man allerdings dem Schulbedürfnis Rechnung tragen und sich auch mit neuerer Aussprache, Syntax und Dichterkunde etwas befassen. Die Tradition der Germanistik, ja der klassischen Philologie gab den Ton an.

Heutzutage mag man über solch enge Taktik lächeln; aber die Konzentriertheit des Vorgehens pflegte doch akademische Früchte zu zeitigen, die wir jetzt verhältnismäßig viel seltener und schwächer hervorbringen. Große Werke wurden damals begonnen und energisch gefördert, die seitdem stecken geblieben sind. Mätzner schrieb das beste mittelenglische Wörterbuch und kam bis G; ten Brink schilderte die altenglische Literatur und kam bis herab zur Reformation; junge Anglisten aus Deutschland saßen mit Bienenfleiß auf den englischen Bibliotheken, besorgten den gründlichsten Teil der Ausgabentechnik und schreckten nicht vor der Aufgabe zurück, das ganze Wert Chaucers mit seinen siebzig Tausenden von Versen aus der Unmenge der Handschriften herauszuschälen. Das Fach war eben zum Rang einer Vollwissenschaft erhoben und mit akademischen Lehrstühlen ausgestattet worden. Frische Kräfte saßen auf dem Katheder, neubegründete Fachzeitschriften schürten die Forschung, und der Gelehrteneifer ließ es vergessen, daß mancher namhafte Anglist nur ein mühsames Englisch zu sprechen vermochte. Das war die stolze Zeit, wo Furnivall sich von Zupitza leiten ließ, und Sweet vereinsamt vom inevitable German schrieb, und jeder amerikanische Anglist sein Wissen an deutschen Hochschulen holte.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/79&oldid=- (Version vom 20.8.2021)