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höherer Hörerzahl mit drei Ordinarien begnügen, die alle das sechzigste Lebensjahr überschritten haben, und neben diesen wirkt ein voll beschäftigter Extraordinarius nebst einem nebenamtlich fungierenden sowie ein einziger Privatdozent.




Mathematische Literatur.

Wenn wir im vorstehenden bei den äußerlichen Merkmalen eines regen, fruchtbaren Schaffens länger verweilt haben, so möge dies damit entschuldigt werden, daß wir meinten, es könne auf diese Weise auch der Nichtmathematiker eine Vorstellung von dem frisch pulsierenden wissenschaftlichen Leben unter den gegenwärtigen Jüngern der Mathematik erhalten. Die treibenden Gedanken der die Wissenschaft fördernden Arbeiten sind erst aus einer eingehenden Betrachtung der reichen wissenschaftlichen Literatur der Mathematik zu erkennen, einer Literatur, die in der bisherigen Darstellung kaum gestreift ist. Eine Übersicht hierüber gibt das Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik, dessen Leitung seit dem Jahrgang 1883 mir anvertraut ist. Gegenwärtig sind etwa 60 Mitarbeiter an diesem Werke tätig, um die kurz gehaltenen sachlichen Referate über die einzelnen Arbeiten zu liefern. Die Anzahl der Titel der in jedem Jahrgange angeführten Schriften geht jetzt über 3000 hinaus.

Fortentwicklung der Mathematik.

Bevor wir zu der Besprechung charakteristischer neuer Gedanken und Entdeckungen aus den letzten 25 Jahren übergehen, wollen wir eine allgemeine Bemerkung vorausschicken. Bei den Nichtmathematikern ist die Ansicht ziemlich allgemein verbreitet, die Mathematik sei eine in sich abgeschlossene fertige Wissenschaft lange erkannter Wahrheiten; es gebe in ihr nichts Neues zu schaffen. Es handle sich in erster Linie darum, sich diese Wahrheiten anzueignen und von ihnen Anwendung auf solche Probleme zu machen, die von den Naturwissenschaftlern gestellt oder künstlich von Mathematikern ausgeklügelt werden. Die Mathematik ist jedoch eine Wissenschaft von unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten. Die Gebilde, mit denen der Mathematiker sich beschäftigt, sind Schöpfungen seines Geistes, gebunden an die allgemeinen Denkgesetze, angeknüpft, veranlaßt, erzeugt an und durch die Erfahrung, selbständig und unabhängig von der Anschauung durch in sich widerspruchslose Definitionen. Der Zusammenhang der mathematischen Gebilde mit der Wirklichkeit, der besonders in der Mechanik und in der mathematischen Physik bei ihren Begriffsbestimmungen zu behandeln ist, gehört seit den ältesten Zeiten zu den von den Philosophen betrachteten Grundfragen, die das Verhältnis vom Denken zum Sein, das Erkenntnisproblem betreffen. Und wie die Philosophie in den letzten Jahrzehnten durch ihren engen Anschluß an die rasch sich entwickelnden Naturwissenschaften einen neuen Aufschwung genommen hat, so ist auch die philosophische Auffassung der mathematischen Grundbegriffe in dieser Zeit bedeutend vertieft worden. Zwar sind die Hauptschriften der Philosophie der Mathematik nicht in Deutschland erschienen; aber die Aufsätze Poincarés, der durch seine innerste Natur dazu getrieben wurde, die mathematischen Grundbegriffe zu zergliedern und seine Gedanken in möglichst

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/92&oldid=- (Version vom 20.8.2021)