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allgemein verständlicher Sprache zu entwickeln, sind in den beiden Büchern „Wissenschaft und Hypothese“ und „Wert der Wissenschaft“ durch die deutschen Übersetzungen in Deutschland allgemein bekannt und viel gelesen worden; sie geben eine Vorstellung von dem die Mathematik durchdringenden philosophischen Geiste der Epoche.

Bedeutung mathematischer Probleme.

Wie Hilbert in seinem berühmten Vortrage auf dem internationalen Mathematikerkongreß zu Paris 1900 bemerkt hat, sind es bedeutende Probleme, die den Fortschritt der mathematischen Wissenschaft bedingt haben. „Wie überhaupt jedes menschliche Unternehmen Ziele verfolgt, so braucht die mathematische Forschung Probleme. Durch die Lösung von Problemen stählt sich die Kraft des Forschers; er findet neue Methoden und Ausblicke; er gewinnt einen weiteren und freieren Horizont.“ Dadurch kommt er aber auch wieder auf neue Probleme, wie dies Moritz Cantor (1898) in dem Vorwort zur Schlußlieferung des dritten Bandes seiner Vorlesungen über Geschichte der Mathematik durch Ausführung des von Hilbert angedeuteten Bildes schildert: „Ich habe den Gipfelpunkt erreicht, den ich 1880 als Endziel genannt habe, und nachdem ich angelangt bin, geht es mir, wie es so vielen Reisenden in fremden Landen ergangen ist. Der Gipfel, den ich unter großer Anstrengung erklommen habe, erweist sich als Vorberg, und hinter und über ihm bleiben neue hohe Spitzen zu erreichen, neue und lohnende Ausblicke nach rückwärts wie nach vorwärts versprechend.“

Als ein Beispiel für die hier gegebene Schilderung diene die Schlußbemerkung zu Vivantis Bericht über den gegenwärtigen Stand der Theorie der ganzen transzendenten Funktionen. „Mancher dürfte denken, die von den ganzen Funktionen gebildete, enge Funktionenklasse sei bisher so sehr bearbeitet worden, daß ihre Erforschung bald erschöpft sein wird. Das kann nicht sein; in dem Entwicklungsgange der Wissenschaften erzeugt jede überwundene Schwierigkeit neue, härtere Schwierigkeiten, jede gelöste Frage neue, höhere Fragen. Als der Weierstraßsche Satz ans Licht trat, konnte man wohl glauben, es gebe nichts weiter über die ganzen Funktionen zu sagen, nachdem ihre allgemeine Form aufgestellt worden war; dagegen war die Weierstraßsche Formel eben der Ausgangspunkt zur Bildung einer neuen, blühenden Theorie, insofern als sie die Mannigfaltigkeit des Verhaltens der ganzen Funktionen hervortreten ließ und die Elemente zu einer Klassifikation derselben darbot. Später erledigte Picard durch seinen Satz ganz erschöpfend die sich von selbst darbietende Frage, ob es ganze Funktionen gibt, welche, analog wie ex, gewisse Werte nicht annehmen dürfen; und doch bildet dieser Satz nur das erste Glied einer langen, immer mehr und mehr sich ausdehnenden Kette von interessanten und fruchtbaren Untersuchungen. Ähnlich verhält es sich mit dem heutigen Stande unserer Theorie; das Errungene lehrt uns, was noch weiter zu tun übrig bleibt. Man muß die algebraische Richtung wieder aufnehmen, aus der man wohl nicht alles gezogen hat, was sie liefern kann. Der Gebrauch der kürzlich eingeführten mächtigen Untersuchungsmittel soll die Theorie der Funktionen von endlicher Ordnung verfeinern und vertiefen, und parallel derselben wird diejenige der Funktionen von unendlicher sowie

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/93&oldid=- (Version vom 20.8.2021)