Seite:Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius 813.png

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wiederkehrende nervöse Angstanfälle und Vorstellungen dämonologischen Inhaltes, die Antonius durch eine glaubensvolle psychische Reaktion als unbegründet immer wieder überwinden muß. Für manchen willensschwachen Menschen wären solche Zwangsvorstellungen in Wahnideen übergegangen, die ihn auch innerlich ganz in ihre Gewalt gebracht hätten. Antonius bewahrt in seinem vertrauensvollen Christusglauben und seinem heroischen Willen sich die geistige Freiheit gegenüber jenem nervösen Zwang. Hiermit ist das erste Glied des objektiven Befundes, die häufig auftretende Bewußtseinstatsache, daß dem Einsiedler Angstaffekte und Vorstellungsbilder dämonischer Angriffe innerlich gegenwärtig sind, mit Hilfe psychologischer und religionsgeschichtlicher Daten auf den wissenschaftlichen Ausdruck gebracht: Es treten im Leben des Einsiedlers Antonius Phobien und Zwangsvorstellungen dämonologischen Inhalts auf.

     Wir treten nunmehr auf dem Boden dieser Position prüfend an die übrigen Elemente des objektiven Befundes und ihre Erklärung heran. Folgendes steht auf Grund der Selbstbeobachtung des Einsiedlers fest: Er hat nach dem Auftreten von Phobien oder Zwangsvorstellungen häufig das Bewußtsein, daß er mit seinen Sinnesorganen, vornehmlich dem Gesicht und Gehör, Objekte wahrnehme, welche dem Inhalt der Phobien und Zwangsvorstellungen entsprechen. Über diesen tatsächlichen Befund, d. h. über jenen Bewußtseinsinhalt reflektiert er. Er sucht mit seinen und seiner Zeit Erkenntnismitteln den unzweifelhaften, aber nicht offenkundigen Zusammenhang zwischen den Elementen des Befundes zu konstruieren. So kommt er zu der Überzeugung, daß tatsächlich seinem Bewußtsein entsprechend äußere Objekte auf seine Sinnesorgane einwirken, daß jedoch die Objekte nur Scheingestalten sind, welche die Dämonen seinen Vorstellungsbildern nachgeformt haben. – Die neuere Psychiatrie ihrerseits erklärt auf Grund eines reichen Beobachtungsmaterials hinsichtlich der Phobien: „Auf der Höhe des Krankheitszustandes fehlen selten schreckhafte Sinnestäuschungen (Gehör, Gesicht) und schreckliche Vorstellungen drohenden Unheils, in welchen die Angst sich objektiviert“ (Kr.–Ebing S. 208). „Der von [solchen Sinnestäuschungen] Halluzinationen Heimgesuchte sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt mit der vollen Deutlichkeit einer objektiv begründeten Sinneswahrnehmung Dinge, die einer objektiven Begründung entbehren“ (Kr.–Ebing 101).

     Es liegen somit Erklärungen und Bezeichnungen unseres Phänomens vor, die sich widersprechen. Wir müssen darum die gedankliche Konstruktion des Einsiedlers sowohl als auch der neueren Psychiatrie prüfen, um festzustellen, welche Auffassung uns den einfachsten und geradesten Weg zu einer allseitigen Klärung des Problems führt. Antonius und die neuere Psychiatrie wissen beide, daß an dem Bewußtseinsvorgang eine Täuschung haftet. Dieses Wissen schöpfen sie zunächst aus der Erfahrung, daß die schreckhaften Objekte, die dräuenden Gestalten nicht zu Gewalttat übergehen, sondern nach einiger Zeit unverrichteter Dinge wieder verschwinden. Aber wo liegt die Täuschung? Die psychiatrische Fachwissenschaft sieht die Täuschung darin, daß das Bewußtsein eine Sinnesfunktion aussage, welche tatsächlich nicht stattfinde. Antonius dagegen glaubt der Aussage seines Bewußtseins, daß eine Sinnesfunktion vorliege. Für ihn haftet die Täuschung an dem auftretenden Sinnesobjekt. Dieses hat zwar Ausdehnung und Gestalt, aber sonst keine Realität. Es ist ein Scheingebilde, ein Gespenst.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Stoffels: Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius. Ferdiand Schöningh, Paderborn 1910, Seite 813. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Angriffe_der_D%C3%A4monen_auf_den_Einsiedler_Antonius_813.png&oldid=- (Version vom 4.5.2020)