Seite:Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius 828.png

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weniger möchte sie der Anschauung Nahrung geben, als ob das vorliegende Quellenmaterial eine rein natürliche Deutung dieses Lebens zulasse oder gar verlange. Während wir uns nach dieser Seite vor Verallgemeinerungen hüten, glauben wir anderseits aus unserer Untersuchung ein sicheres Kriterium für die Beurteilung dämonischer Angriffe auf gottesfürchtige Personen gewonnen zu haben. Dasselbe lautet: Wenn in der Geschichte christlicher Heiligen oder ehrwürdiger Personen auf Grund bestimmter organischer und seelischer Vorbedingungen dämonische Angriffe auf die verschiedenen Sinnesgebiete als objektiv empfunden und berichtet werden, ohne daß solche Vorgänge den Sinnen anderer unbefangenen Zeugen objektiv erkennbar werden, dann spricht die Präsumption dafür, daß es sich um Halluzinationen bzw. Illusionen handelt. Unter den bestimmten seelischen Vorbedingungen verstehen wir einen dämonologischen Vorstellungskreis, wie er seit der vita Antonii zunächst im orientalischen Mönchtum und dann mit Hilfe der alten Mönchsliteratur in der späteren religiösen Entwicklung des Abendlandes nachgewirkt hat, einen Vorstellungskreis, welcher die Entstehung und Verstärkung dämonologischer Phobien und Zwangsgedanken zu begünstigen sehr geeignet war. Es müßten ferner die organischen Vorbedingungen gegeben sein, welche zu Phobien, Zwangsgedanken und Sinnestäuschungen disponieren, insbesondere eine erhöhte Reizbarkeit der Gehirnrinde infolge Entkräftung und Erschöpfung des Organismus durch strenge Aszese, Fasten und Nachtwachen in Verbindung mit angestrengter Kontemplation. Da beide Bedingungen für viele Heilige zutreffen, fällt auch ein großer Kreis mystischer, insbesondere dämonischer Vorgänge unter das genannte Kriterium. Wenn etwa die hl. Magdalena von Pazzi, und zwar sie allein, zu einer Zeit stärkster seelischer Depression, wo sie Ekel an allen religiösen Übungen empfand und unter schweren Glaubenszweifeln litt, im Chore fortwährend Blasphemien hörte, so liegen hier Gehörshalluzinationen auf der Grundlage von Zwangsgedanken vor. Wenn der Karmelit Dominikus von Jesu Maria einst am Krankenbette seine eigene Gestalt sich selbst gegenübersah, dann begegnete ihm dasselbe wie Göthe, der seine eigene Gestalt in hechtgrauem Anzug auf dem Wege nach Sesenheim hoch zu Roß an sich vorüberreiten sah, oder wie Nikolai, der sich bei seiner abendlichen Rückkehr selbst an seinem Schreibtische sitzen sah. Wenn der hl. Franziska von Rom weiße Täubchen erschienen, die sich plötzlich in reißende Ungetüme, Wolf, Drache, Löwe verwandelten und den Rachen gegen sie aufsperrten, ohne ihr zu schaden, so hatte sie ähnliche Gesichtstäuschungen wie Antonius. Oder wenn der Jesuitenpater Sebastian del Campo, dem die Dämonen bald das Meßbuch versteckten, bald die Buchzeichen darin verwirrten – Zeichen seiner Nervosität –, einen Regen von Steinen aushalten mußte, der ihm zwar große Schmerzen, aber keine Verletzung brachte, so lag eine Sensation, eine Täuschung im Gefühlssinn vor. Solcher Fälle ließen sich eine große Zahl namhaft machen. Die Einwendung, jene Heiligen hätten vielfach nicht wie Antonius zunächst die Entwicklung von dämonologischen Vorstellungsbildern in der eigenen erregten Phantasie beobachtet, sondern das Bewußtsein gehabt, nur äußere objektive Wahrnehmungen aus einer anderen Welt zu erfahren, ist nicht beweiskräftig, weil tatsächlich auch Halluzinationen zugleich mit plötzlich auftauchenden Phobien zum Bewußtsein kommen und Selbstbeobachtungen, wie sie der Einsiedler Antonius machen konnte, ausschließen.

     Der Stand unserer religionsgeschichtlichen und physiologisch-psychologischen

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Stoffels: Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius. Ferdiand Schöningh, Paderborn 1910, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Angriffe_der_D%C3%A4monen_auf_den_Einsiedler_Antonius_828.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)