Seite:Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius 830.png

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Inhalt vom Individuum dann für Wirklichkeit gehalten wird. Häufige Halluzinationen, insbesondere „Stimmen“ können den Übergang von Zwangsgedanken in Wahnideen beschleunigen. In Antonius aber begegnet uns eine Persönlichkeit, deren gesunder Sinn und Willensgröße sich von dem dunkeln Hintergrunde, den unsere Untersuchung zeichnen mußte, gradezu leuchtend abhebt. So sehr er auch in dem Banne des Volksglaubens und der allgemeinen Dämonenfurcht lebte, so sehr ihn auch die aszetische Strenge seines Lebens zu nervösen Zwangsgedanken disponierte, und so oft er auch die Macht der Sinnestäuschungen erfuhr, Antonius’ heldenmütiges Gottvertrauen siegt über jede Phobie und jede Sinnestäuschung. Er bewahrt sich die volle geistige Freiheit gegenüber solchen Einflüssen und lernt sich auf eine psychologisch richtige Art gegen dieselben zu schützen. Und noch ein anderer Triumph des Geistes und der sittlichen Kraft verklärt dieses Kampfesleben der Wüste. Der Neurastheniker, der Melancholiker stehen unter der Tyrannei der Nerven und Launen. Willensschwach werden sie zur Plage für sich selbst und ihre Umgebung. Der Einsiedler bewahrte sich jedoch bei aller nervösen Erschöpfung ein rücksichtsvolles, verbindliches Wesen, das eine auffallende Anziehungskraft ausübte. Die Sarazenen, welche die Wüste durchzogen, kamen absichtlich am Berge Cholzim vorüber und brachten dem Einsiedler mit Freuden Brot, weil sie an seiner heiteren Frömmigkeit Gefallen hatten (c. 50). Der alexandrinische Metropolit und Freund des Heiligen findet das Eigentümliche, das sein Wesen auszeichnete, in der durchsichtigen Reinheit seiner Seele, so daß ihre Freudigkeit und Abgeklärtheit sich in seinem Antlitz und selbst in den Bewegungen des Körpers widerspiegelte (c. 67). Wenngleich er im Gebirge herangewachsen und dort alt geworden war, hatte er keineswegs ein rauhes Wesen an sich, sondern war freundlich, ja von städtisch höflichen Manieren (c. 73). So bricht aus seinem Wesen der Sieg des Geistes und der Selbstzucht über alle Schwächen der Nerven und alle Bequemlichkeit des unbeobachteten Lebens hervor. Um dieser Tatsachen willen wird die Psychiatrie im Leben unseres Heiligen, so wertvoll uns ihre Hilfe auch war, nicht das letzte Wort erhalten. Mag sein Organismus auch die Symptome der Neurasthenie an sich tragen, es gibt einen Unterschied zwischen Neurasthenie und Neurasthenie, zwischen einer Neurasthenie, die ihr Entstehen zum guten Teil auf Willensschwäche zurückführt und ihr wiederum die Wege ebnet, und einer Neurasthenie, die der ungestümen Willenskraft ihr Dasein verdankt und ihrer Überlegenheit sich immer zu unterwerfen gezwungen bleibt. In Antonius’ Leben zeigt sich die tiefste Berührung zwischen Natur und Gnade. Wo der Mensch in unbeirrter Aszese seine unfreie, begrenzte Natur Gott zum Pfande gibt, da erhält er eine geläuterte begnadete Natur zurück, die zwar dem Leibe nach an gewisse Grenzen gebunden bleibt, aber doch eine bewundernswerte, das Leben geistig umgestaltende Freiheit ihr eigen nennen darf. In dieser Freiheit des konsequenten glaubensmutigen Denkens und der unerschrockenen Hingabe an die Gottes- und Menschenliebe liegt das Vorbildliche der Heiligen für den Alltagschristen. Es tritt ihm aber erst nahe, wenn zuvor kritische Arbeit den Vorhang mystischer Heimsuchungen gelüftet und die Seele eines Heiligen in ihrer starken unbeirrten Haltung gegenüber den schwersten Prüfungen enthüllt hat.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Stoffels: Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius. Ferdiand Schöningh, Paderborn 1910, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Angriffe_der_D%C3%A4monen_auf_den_Einsiedler_Antonius_830.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)