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Selbst daß die Revolution bei allen europäischen Nationen – namentlich sofort mit ihrem Beginn – einen vollkommen sozialistischen Charakter annehmen wird, ist gleichfalls zu bezweifeln. Denken wir daran, daß Deutschland noch unter einem streng zentralisierten Kaisertum lebt und daß das Ideal seiner fortgeschrittenen Parteien die Jakobinerrepublik vom Jahre 1848 und die „Organisation der Arbeit“ von Louis Blanc ist, während die französische Nation die freie Kommune, wenn nicht die kommunistische Kommune fordert.

Daß Deutschland in der nächsten Revolution weitergehen wird als seiner Zeit Frankreich, nichts ist wahrscheinlicher. Als Frankreich im 18. Jahrhundert seine bürgerliche Revolution hatte, ging es weiter, als England im 17. Jahrhundert; zu gleicher Zeit, wo es die Macht des Königtums beseitigte, brach es auch die Macht des Landadels, der bei den Engländern heute noch eine gewaltige Macht repräsentiert. Wenn aber Deutschland auch weitergeht und mehr tut als Frankreich im Jahre 1848, so wird sicherlich die Idee, welche es anfangs leitet, diejenige von 1848 sein, wie die Idee, welche eine Revolution Rußlands leiten wird, die Idee von 1789 sein wird, bis zu einem gewissen Punkte modifiziert durch die intellektuelle Bewegung unseres Jahrhunderts.

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Ohne übrigens diesen Weissagungen mehr Wichtigkeit beizulegen, als sie verdienen, können wir daher resümieren: Die Revolution wird bei den verschiedenen Nationen Europas einen verschiedenen Charakter annehmen; das Niveau, das man bezüglich der Vergesellschaftlichung der Produkte anstreben wird, wird nicht überall das gleiche sein.

Folgt daraus nun, daß die fortgeschritteneren Nationen ihren Schritt nach den im Rückstand befindlichen Nationen richten sollen, abwarten sollen, bis alle zivilisierten Nationen für die kommunistische Revolution reif sein werden? Offenbar nicht! Wollte man es übrigens, so wäre es gleichwohl unmöglich. Die Geschichte wartet nicht auf die Zurückgebliebenen.

Uebrigens glauben wir auch nicht einmal, daß die Revolution in einem und demselben Land überall gleichzeitig ausbrechen wird, wie es einige Sozialisten träumen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß, wenn eine der fünf oder sechs großen Städte Frankreichs – Paris‚ Lyon, Marseille, Lille, Saint-Etienne, Bordeaux – die Kommune proklamiert, die andern ihrem Beispiel folgen werden und daß auch verschiedene weniger bevölkerte Städte ebenso handeln werden. Aller Voraussicht nach werden auch mehrere Minendistrikte, wie gewisse industrielle Zentren nicht zögern, ihren Arbeitsherren den Laufpaß zu geben und sich in freien Gruppierungen zusammenzuschließen.

Aber ein großer Teil des flachen Landes wird noch nicht so weit sein, er wird nicht auf der Seite der aufständischen Kommunen stehen, sondern eine abwartende Haltung einnehmen und fortfahren, unter dem individualistischen Regime zu leben. Wenn man den Steuereinnehmer und den Gerichtsvollzieher nicht mehr die Steuern und die Zinsen holen sehen wird, so werden die Bauern sich den Aufständischen gegenüber nicht feindlich verhalten, und je nach der Situation werden sie sich

Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/68&oldid=- (Version vom 21.5.2018)