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Walther Kabel: Die Furcht vor Mäusen und Ratten. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 1, S. 218–222

Vormittag waren die Logen des großen Stierkampfgebäudes mit einem aus den höchsten Würdenträgern Sevillas und den Vertretern der Presse bestehenden Publikum angefüllt. Nachdem dann der Stier, ein junges, feuriges Exemplar seiner Art, von den Pikadores und Banderillos mit ihren Lanzen und spitzen Fähnchen bis zur äußersten Wut gereizt war, wurde auf ein gegebenes Zeichen von der Decke der Arena ein an Drahtseilen hängendes, niedriges Podium herabgelassen, auf dem Juan Massacero, gekleidet in einen leuchtend roten Mantel, stand. Als das Podium den sandbestreuten Boden berührte, zogen sich die bisher in Tätigkeit gewesenen Banderillos und Pikadores zurück und überließen den kühnen Argentinier allein seinem Schicksal.

Juan Massacero stand unbeweglich da. Nur seine dunklen Augen verfolgten unablässig jede Bewegung des Stieres. Endlich senkte dieser, da in der Arena niemand weiter vorhanden war, an dem er seine Wut auslassen konnte, die spitzen Hörner zum Angriff und stürmte mit heiserem Gebrüll auf die rote Erscheinung zu. Der Argentinier rührte kein Glied. Er schien verloren, allein er verharrte, die Augen fest auf den Angreifer gerichtet, regungslos. Und wirklich – ein Ruf des Erstaunens durchlief die Reihen der Zuschauer – wenige Meter vor Juan Massacero verlangsamte der Stier plötzlich sein Tempo, um dann dicht vor dem unerschrockenen Amerikaner, die Vorderbeine in den Erdboden stemmend, halt zu machen. Einige Sekunden später trollte er sich anscheinend äußerst mißmutig in eine entfernte Ecke, wo er unbeweglich stehen blieb und nur hin und wieder den mächtigen Kopf scheu nach seinem geheimnisvollen Bezwinger hindrehte. Kein Wunder, daß nun ein nicht endenwollender Beifallssturm den Zirkus durchbrauste, kein Wunder, daß man den Argentinier als allerneueste Attraktion sofort gegen ein hohes Gehalt engagierte und daß die Arena fortan stets bis auf den letzten Platz gefüllt war.

Sechs Wochen lang zerbrachen sich die Spanier vergeblich darüber die Köpfe, welcher Art wohl die unheimliche Macht sein könne, mit der der Mann die wütendsten Stiere immer wieder

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Walther Kabel: Die Furcht vor Mäusen und Ratten. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 1, S. 218–222. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1912, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Furcht_vor_M%C3%A4usen_und_Ratten.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)