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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

dessen Hülfe er seine unsichtbare Schülerin neue Lieder lehrte! Dabei wurde Vater Widerhold – wie sich der Gefängnißverwalter am liebsten nennen hörte – täglich zutraulicher, er verlängerte die Lehrstunde mehr und mehr und flocht immer längere Unterredungen hinein.

Da erzählten dann beide Männer von ihren Erlebnissen, Rudolf von seinen Schul- und Universitätsjahren, der Greis von seinem Kriegerleben. Rudolf hatte öfters Gelegenheit wahrzunehmen, wie nicht nur er so wohlwollend behandelt wurde, sondern der alte Kriegsmann allen Gefangenen in Wahrheit ein sorgsamer Vater war. Rudolf konnte einmal nicht umhin, seinen Beifall und seine Verwunderung darüber zu äußern. Da sagte der Alte:

„Lieber Doktor, wenn man seine siebzig Jahre im Leben nicht gedankenlos versäuft oder verträumt, wenn man die Welt mit klarem Blick betrachtet hat, so muß man wohl endlich wissen, daß nicht in den Gefängnissen die verworfensten Glieder des Menschengeschlechtes zu suchen sind; und wenn man ein Menschenalter lang mit Verstand Gefangenenwärter gewesen, so muß man die Erfahrung gemacht haben, daß keine Tugend, keine Vorsicht und keine Stellung im Leben einen Unschuldigen davor sichert, einmal der Bewohner eines Gefängnisses zu werden und daß selbst von den Schuldigen weit mehrere durch Irrthum und Unwissenheit, Uebereilung und Krankheit der Seele Verbrecher werden als durch Herzensbosheit. Unsereiner, wenn er will und Verstand dazu hat, lernt weit besser in den Seelen der Unglücklichen lesen, die hier herein kommen, als die Herren zwischen den Akten, die oft den Wald vor Bäumen nicht sehen. Ich will mich aber nicht rühmen – wer weiß, welch’ ein blinder Tyrann meiner Gefangenen ich wäre, hätte Gott mir nicht einen Engel an die Seite geführt, der mir die Augen öffnete. Ich fand an einer verwaisten Predigerstochter nicht nur ein Weib nach meinem Herzen, sondern auch eine Retterin meines bessern Menschen. O, Sie sollten sie gekannt haben, die Mutter meiner armen Kinder – sie war die verkörperte Gnade, von der das Evangelium redet.“

Er hielt inne, Thränen erstickten seine Stimme.

„Nachdem sie ihre heilige Sendung an mir vollendet,“ fuhr er nach einer Pause fort, „nachdem sie aus einem gut dressirten Kriegsknecht einen Menschen gemacht, nahm Gott sie wieder von mir und ihren Kindern, ehe sie deren Unglück erleben konnte; denn bald nach ihrem Hinscheiden wurde mein Sohn, der in Berlin studirte, in eine politische Untersuchung verflochten, deren unheilvollem Ausgang er sich durch die Flucht entzog, und meine Clelia, damals ein Kind von sieben Jahren, erkrankte am Scharlachfieber, in dessen Folge sie erblindete. Ja, lieber Doktor, die Hand des Herrn hat auch schwer auf mir gelegen; aber Preis sei ihm, er hat Alles zum besten gelenkt. Mein Sohn, dessen Verirrung ich nicht zu billigen brauche, wenn ich den Adel der Gesinnung ehre, die ihr zu Grund liegt und auf die unsere Gesetze keine Rücksicht nehmen, mein geächteter Sohn ist längst ein glücklicher Bürger des friedlichen Norwegens, der auf eigenem Schiffe dann und wann den hiesigen Hafen besucht, wo ich ihn im Geheimen sehen und in meine Arme schließen kann. Und Clelia – was soll ich von ihr sagen? Sie wurde die Vollenderin des Werkes, das ihre Mutter in mir angefangen, sie wurde das Licht meiner Seele, das Auge meines Geistes, das von Gott selbst regierte Steuer meines Herzens. Ich sage Ihnen: das zarte, ungelehrte, blinde Wesen sieht heller und schärfer in Dingen des menschlichen Herzens, als ich und alle Richter hier mit ihrem rechtsgelahrten Wust. Sie hat schon manchen Unschuldigen herausgefunden, wo die Welt und das Gericht verdammten und hinterher durch einen sogenannten Zufall die Unschuld an den Tag kam, nachdem der arme Verurtheilte schon Monate, auch wohl Jahre die Schmach des Verbrechers getragen. Herr – wenn man nach solchen Erfahrungen seine Gefangenen noch tyrannisiren, oder auch nur kalt behandeln kann, so ist man des Menschennamens nicht würdig.“

Unter dieser Behandlung würde Rudolf seinen Proceß ganz vergessen haben, wäre er nicht durch einzelne Verhöre daran erinnert worden. In diesen benahm er sich weit sicherer und klüger als im Anfange, und es wäre ihm vielleicht gelungen, die vorgefaßte Meinung des Gerichtes umzustimmen, wäre nicht die unbesiegbare und allzu große Scham über seinen zweiten Besuch bei seiner unglücklichen Tante gewesen. Sobald der Richter diesen Punkt berührte, verlor Rudolf seine Ruhe, er wurde in hohem Grade verlegen, und als ihm im Beisein der Fritschin die Worte vorgehalten wurden, die er, damals in der höchsten Aufregung gesprochen, da verwirrte ihn die Scham dergestalt, daß der Inquirent und die ganze Gerichtsbank auf’s Neue in ihrem Vorurtheil bestärkt wurden.


IV.
Operationsversuche.

Vierzehn Tage waren seit Rudolf’s Verhaftung verflossen, als eines Abends der würdige Gefängnißverwalter bei seiner Tochter saß und ihr einen Brief von ihrem Bruder vorlas, worin derselbe neben manchem andern Erfreulichen auch meldete, er habe die Bekanntschaft eines berühmten Augenarztes aus Kopenhagen gemacht, von dem er glaube, daß er Clelia’s Augen wieder herstellen werde. In einem Monat werde er mit ihm kommen.

„Ach, wollte Gott, Eduard’s Hoffnung würde wahr!“ rief der Greis, als er mit Lesen fertig war.

Clelia schüttelte ihr braunes Lockenköpfchen, sagte aber dann: „Wir wollen’s Gott anheimstellen. Wenn es möglich und sein Wille ist, daß ich wieder sehen lerne, so wird er auch den Helfer schicken.“

„Ja,“ sagte der Greis gerührt, „Du hast Recht, liebes Kind – wir wollen ihm vertrauen wie bisher. Laß uns ihm danken, daß er’s mit Deinem verbannten Bruder so wohl gemacht hat. Wenn doch alle unschuldigen Opfer einer blinden Justiz errettet würden wie er!“

Clelia seufzte und sagte dann: „Wir wollen für sie beten, wo wir sonst nichts für sie thun können.“

Nach einer Weile begann der Alte wieder: „Was sagst Du zu unserm Doktor? Hältst Du ihn für schuldig an dem gräßlichen Verbrechen?“

Clelia erwiederte mit einem Eifer, der ihrem ruhigen Wesen sonst nicht eigen war: „Wenn er schuldig ist, dann sind die Engel des Lichtes Kinder der Verdammniß! Ich sage Dir: ein reinerer, edlerer Mensch kam noch nicht über die Schwelle dieses Hauses!“

„Ich glaube Dir,“ sagte ihr Vater; „Dein Urtheil war noch immer sicher. Ach, daß doch die Richter sähen wie Du!“

„Hoffentlich werden sie die Unschuld dieses Mannes erkennen –“

„Ich fürchte, sie werden ihn verurtheilen –“

„Verurtheilen?“ rief das Mädchen erschrocken – „wozu?“

„Zu lebenslänglichem Zuchthaus, wenn er nicht gesteht – wenn ihm aber die Seelenfolter eines langwierigen Kerkers zuletzt ein Geständniß aus Lebensüberdruß erpreßt, zum Schwert. Und ein solches Geständniß gehört nicht zu den Unmöglichkeiten, da für feinere Organisationen ein schneller Tod minder grausam ist, als die langsame Hinrichtung durch vieljährigen Kerker –“

„O, himmlischer Richter! – Vater – laß uns den Armen schützen! Tritt Du als Vertheidiger der Unschuld auf – oder laß mich – mich reden!“

„Gutes Kind – unser Zeugniß hat als subjective Meinung, wie sie’s nennen, kein Gewicht bei einem hochnothpeinlichen Proceß, da gelten nur sogenannte objective Beweise! Doch hoffen wir auf Gott, der auch dieses Bedrängten Gerechtigkeit hervorbringen kann wie den Mittag.“

„Halt! da fällt mir etwas ein – sagtest Du nicht, der liederliche Sohn des Polizeisergeanten Huker sei am Morgen nach jener Nacht, da die Mordthat verübt worden, nach Amerika abgegangen?“

„Du meinst doch nicht etwa –“

„Gott verzeihe mir, wenn ich einen Unschuldigen im Verdacht habe – aber hat nicht der Sergeant die beiden Freunde belauscht? Hat er nicht zu Protokoll gegeben, er habe den Doktor davon sprechen hören, daß seine Tante ihr baares Geld des Nachts unter ihrem Kopfkissen zu verbergen pflege? Kann nicht der Sergeant dies zu Hause in Gegenwart seines Sohnes wieder erzählt und ihn dadurch zur Verübung des Verbrechens gereizt haben?“

„Kind! Kind!“ – rief der Greis betroffen – „Du kannst Recht haben! Doch was wird es helfen, wenn ich auch versuche, Deine Vermuthung im Gerichte in Umlauf zu bringen? Der Bube ist fort, wie vorher schon bestimmt war, also nicht als Flüchtiger, und der Alte steht so gut angeschrieben bei den hiesigen Behörden,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_087.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2017)