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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)


Der halbgewelkte Blumenstrauß –
Das Fenster schließt sich wieder. –
Da kommen denn Schneeflöckchen all’,
Schneeglöckchen zu bestatten
Und breiten sich in sanftem Fall
So lustig, leis’ wie Schatten
Auf ihrer Schwesterblume Grab –
Und hinter hellen Scheiben
Schaut froh ein lockig Kind herab,
Belacht das Flockentreiben. –
Noch ahnt es nicht, noch weiß es nicht
Von Welken und Verbluten –
Daß bald vielleicht sein Herz auch bricht
An Schicksals-Schnee und -Gluten.

Lina.


aus dem Hause ihrer Dienstherrschaft vergießen konnte, waren die, als sie das Kind küßte, um es lebendig in sein Grab zu legen.

Hier zugleich folgende actenmäßige Notizen über sie: Mare Müller war in der evangelischen Religion eingesegnet, aber sie hatte nie Religions- oder auch nur Schulunterricht genossen; sie konnte weder lesen noch schreiben; das Vaterunser hatte sie gelernt, aber sie hatte es längst vergessen; die zehn Gebote waren von ihr nie gelernt worden; sie war unbeschreiblich beschränkt und unwissend, hatte sich aber stets gut betragen und ein stilles Leben geführt; daß sie gutmüthig und sanften Charakters war, ist schon oben von uns bemerkt worden.

So war sie von dem lebendig vergrabenen Kinde fortgelaufen, querfeldein.

Es war an demselben Tage (11. März 1835) Jahrmarkt in Heidekrug. Von diesem selbst war schon zeitig eine Bauersfrau aus Szlomszken heimgekehrt; sie war aber bei dem Dorfe Laudszen von einem Manne, eingeholt worden, der desselben Weges ging. Beide waren Litthauer; sie setzten zusammen ihren Weg fort, sprachen von dem Jahrmarkte in Heidekrug, und daß er alle Jahre an Besuch und an Bedeutung abnehme. Auch sprach man darüber ziemlich klug; sie kamen auf die schlechten Zeiten überhaupt zu sprechen, und wie es mit jedem Jahre schlechter werde, und die Schuld davon besonders die Grenzsperre und die Kosaken trügen. So gingen sie auf der Landstraße weiter, bis sie zu der Stelle gelangten, wo Mare Müller ihr Kind vergraben hatte. Sie hörten hier plötzlich ein Geräusch neben sich; es kam aus der Erde, aus dem Wallgraben an der Landstraße. Sofort hielten sie ihre Schritte an.

„Hörst Du es nun auch, Mann?“

„Ich höre es, Frau.“

„Was mag das sein, Mann?“

„Ich weiß es auch nicht, Frau.“

„Es kommt mir vor, wie das Quieken von Mäusen. Man findet sie in der Heide in ziemlicher Menge.“

„Aber nicht im Winter, Frau. Ich habe einen anderen Gedankens“

„Welchen Gedanken hättest Du!“

„Hast Du schon von den Barstukken gehört?“

„Nein, Mann.“

„Das sind kleine Erdmännchen, Frau, die unter der Erde wohnen; viel findet man sie in Preußen und in Litthauen; man sieht sie nur des Nachts im hellen Mondschein. Dann tanzen sie auf der Heide herum, kommen auch wohl des Nachts zu den Menschen, absonderlich zu den Kranken, die sie hegen und pflegen; auch tragen Sie dem, dem sie gut sind, Korn und andere Sachen zu, aus den Scheuern und Speichern anderer Leute, die undankbar gegen sie gewesen waren. Man muß sie deshalb verehren, wenn sie einmal in ein Haus eingekehrt sind, und muß des Abends einen Tisch zurecht setzen, den muß man mit einem sauberen Tischtuch bedecken, und darauf muß man Brot, Käse, Butter und Bier stellen, und sie laut zur Mahlzeit einladen. Ist nun am andern Morgen nichts mehr auf dem Tische zu finden, dann ist dies ein gutes Zeichen, daß sie ferner helfen und wohlthun werden; ist aber die Speise unberührt geblieben, dann sind sie entwichen von dem Hause, um nicht wieder zu kommen, oder nur Böses zu thun.“

„Was willst Du hier mit dieser Geschichte, Mann?“

„Frau, wenn das in der Erde da von den kleinen Barstukken herkäme? Es lautet so, wie ein Wimmern; wenn nun so einem kleinen unterirdischen Männchen ein Unglück begegnet wäre, und es läge da hilflos und jammerte?“

„Du träumst Thorheiten, Mann. Es sind Mäuse, die hier ihr Unwesen treiben.“

„Sage das nicht, Frau.“

„Wir werden sehen.“

„Wir werden ja das bald!“

Sie gingen an den Rand des Grabens, hörten das Winseln in der Erde und fanden auch sofort das frisch gegrabene Loch.

„Frau, das sind keine Mäuse.“

„Aber auch keine Barstukken.“

„Hast Du die Frau gesehen, die eben in die Heide hineinlief?“

„Ich habe das! Hier, vermuthe ich, ist etwas Erschreckliches geschehen.“

Sie wühlten die Erde auf, kratzten den Sand bei Seite und fanden das vergrabene Kind. Es lag noch auf der Seite, wie die Mare Müller es gelegt hatte; ja es lebte sogar noch; es wimmerte und winselte noch immer, freilich immer schwächer und schwächer.

Sie hoben das arme Wesen aus seinem Grabe heraus.

„Frau, wo ist jenes Weib geblieben?“

„Ich weiß es nicht!“

„Wir müssen ihr nachsetzen, der Verbrecherin, der Kindesmörderin.“

„Mann, wir müssen zuerst das Kind retten.“

Das Kind war ganz blau im Gesichte; es schien vor Kälte erstarrt zu sein, und gab nur noch wenige Lebenszeichen von sich, konnte auch nur noch äußerst schwach ächzen.

Die beiden Leute eilten mit dem Kinde nach dem Dorfe Laudszen zurück, und brachten es in das nächste Haus des Dorfes.

Der Zufall hatte es gewollt, daß in dasselbe Haus Mare Müller gegangen war, willenlos, nur mit dem einen Gedanken, Wärme gegen die Kälte und ein Stück Brot gegen den Hunger zu suchen.

Die beiden Litthauer traten mit dem Kinde in die Stube, in der die Unglückliche am Ofen saß.

Sie sah das Kind. Sie sprang auf.

„Das ist mein Kind,“ rief sie. Sie riß es an sich, in ihre Arme, an ihre Brust, an ihre Lippen; sie konnte nur laut und heftig weinen.

Für das Kind wurde ein warmes Bett bereitet, worauf es sich sehr bald erholte.

Mare Müller gestand sofort ihre That ein und darauf hin wurde sie sofort auch verhaftet.

Ihr Geständniß hat sie später nie widerrufen und zeigte stets die größte Aufrichtigkeit und Reue. Ihre Angaben über die Umstände, die ihrer That vorhergegangen waren, wurden überall bestätigt.

Das Kind blieb am Leben; erst später, während der Untersuchung, starb es, wie der Gefängnißarzt erklärte, blos weil ihm die durch die Gemüthsbewegung der Mutter verdorbene Milch schädlich gewesen sei.

Mart Müller hatte sich von dem Kinde nicht trennen wollen, ja sie widmete ihm während ihrer ganzen Haft unausgesetzt die größte Liebe und Pflege, und war untröstlich, als es starb.

Sie wurde von dem ersten Richter – dem Oberlandesgerichte zu Insterburg – „wegen unternommener Tödtung ihres zwei Wochen alten Kindes“ zu einer zwölfjährigen Zuchthausstrafe verurtheilt. In der zweiten Instanz – vom Tribunal zu Königsberg – wurde das erste Erkenntniß bestätigt.

Beide Richter fanden es nicht bedenklich, daß die Angeschuldigte im Zustande des vollen Bewußtseins den Entschluß zu ihrer That, der Tödtung ihres Kindes, gefaßt und ausgeführt habe. Sie gingen nur darüber auseinander, ob Versuch des Mordes oder des Todtschlages vorliege. Mord und Todtschlag unterscheiden

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