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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 43. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Die Rechte des Herzens.
((Schluß.)


IX.


„Mein Kind, ich habe Sie lieb gewonnen,“ begann Henriette bewegt; „und der letzte Dienst, den Sie mir durch die rasche und heimliche Herstellung jenes Trauerkleides erwiesen, hat mich zu Ihrer dankbaren Schuldnerin gemacht. Ich werde mich bemühen, Ihnen nach Verdienst zu lohnen.“

Dem jungen Mädchen traten die Thränen in die Augen.

„Wollte Gott,“ rief es aus, „daß ich Ihnen bei einer frohen Gelegenheit hätte dienen können! Glauben Sie es nur, ich habe Sie während der Arbeit innig bemitleidet!“

„Sie haben mich bemitleidet, und kennen nicht einmal meinen Schmerz in seinem ganzen Umfange!“ sagte Henriette mit einem kummervollen Lächeln. „Ach, wohl bin ich des Mitleides werth! Doch, sprechen wir jetzt von Ihnen, mein liebes Kind!“

„Von mir, Madame?“

„Ich will wissen, wie ich mich Ihnen am Nützlichsten zeigen kann!“

„Sie haben ja meine geringe Arbeit so überschwenglich belohnt, daß es unbillig wäre – –“

Henriette ließ die Stickerin nicht ausreden; mit freundlicher Gewalt zog sie sie zu der Ottomane. Beide saßen nebeneinander. Henriette betrachtete in großer Bewegung das schöne, blühende Gesicht Melanie’s; sie schien eine wehmüthige Freude bei diesem Anblicke zu empfinden.

„Ich erinnere mich, daß auch mir der Spiegel einst ein so frisches Gesicht zeigte, ein lachendes Auge, einen lachenden Mund. Die Zeit liegt noch nicht so weit hinter mir – und doch ist mein Gesicht heute blaß und welk, mein Haar beginnt zu bleichen!“

„Ach, Madame,“ rief Melanie, „Sie sind ja so gut und freundlich, daß der gerechte Himmel sie wieder glücklich machen muß!“

Henriette schüttelte schmerzlich das Haupt.

„Besitzen Sie nicht Alles, um jeden Ihrer Wünsche zu erfüllen?“ fragte Melanie. „Hat die Vorsehung nicht das Füllhorn des Glückes über Sie ausgeschüttet? Fassen Sie Muth, und vertrauen Sie auf Gott!“ rief das unschuldige Kind, um die leidende Dame, die sie innig bemitleidete, zu trösten.

„Sie haben den Luxus im Auge, der mich umgibt; diese Ansicht verräth mir, daß die Armuth zwischen Ihnen und einem Ziele steht, nach dessen Erreichung sich Ihr Herz sehnt. Sie schlagen die Augen nieder – ich habe Recht, nicht wahr, ich habe Recht? Sie beklagen Ihre Armuth, und vielleicht auch die Ihres Geliebten?“

„Madame, Sie lesen in meiner Seele!“ stammelte Melanie verwirrt.

„Dies kann mir nicht schwer werden, da ich mich einst in derselben Lage befunden habe. Ich war arm und schön, wie Sie, mein Kind – ich liebte einen jungen Mann, der mich anbetete – ich schwor ihm ewige Treue, obgleich er arm war – da erschien ein Mensch, der mich mit seinem Reichthums verblendete – ich opferte mein Herz dem Verstande, und ward eine reiche, vornehme Dame. Aber das Herz ist mächtiger als der Verstand, es läßt sich wohl auf kurze Zeit unterdrücken, aber nicht besiegen. Ich habe gefehlt, und büße meinen Fehltritt durch eine Reue, die mir das Herz zernagt. Sie beneiden mich um meinen Reichthum – o, mein Gott, wie gern gäbe ich ihn hin, könnte ich die beiden letzten Jahre meines Lebens damit zurückerkaufen. Er ist mir lästig, er ist mir unnütz doch nein, nein, fügte sie hastig hinzu, ich kann ihn zu Ihrem Wohle verwenden – ich weiß jetzt, wie ich mich Ihnen dankbar erweisen kann! Sie lieben einen armen Mann?“

Melanie nickte tief erröthend mit dem Kopfe.

„Lieben Sie ihn, lieben Sie ihn, bleiben Sie ihm treu, mein armes Kind! Sie sind schön, wie ich einst schön war – die Versuchung wird ihren Arm nach Ihnen ausstrecken; Sie sind jung und eitel, wie ich es einst war – die Eitelkeit wird der Versuchung den Sieg erleichtern: lassen Sie mich Ihr schützender Engel sein, lassen Sie mich durch eine gute That mein begangenes Verbrechen sühnen, und nehmen Sie von mir die Aussteuer, die Sie Ihrem armen Geliebten bringen. Dann hat mein kummervolles Leben doch einen Zweck gehabt, und ich habe mich Ihnen dankbar bewiesen, wie ich es gewollt und gewünscht habe.“

Henriette stand hastig auf, holte ein mit Banknoten gefülltes Taschenbuch, und drückte es der erstaunten Melanie in die zitternden Hände. Dann küßte sie ihr die reine, jungfräuliche Stirn.

„Sie haben mir eine schöne Stunde bereitet, indem. Sie mir Gelegenheit gaben, mein Herz auszuschütten. Außer Ihnen kennt Niemand mein Geheimniß.“

„Madame,“ rief Melanie schluchzend, „ich werde Ihr Vertrauen zu würdigen wissen!“

„Und meinen Rath?“

„Werde ich befolgen.“

In dem Vorzimmer ließ sich ein leises Geräusch vernehmen.

Henriette hatte es gehört.

„Still!“ flüsterte sie.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_577.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2017)