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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Niemand etwas Gescheidtes weiß. Nur der größte Buddha-Tempel, Thian-Thau, innerhalb eines Mauerumfangs von zwei englischen Meilen, ist dem Namen nach und wegen der grandiosen Procession bekannt, mit welcher ihn der Kaiser jedes Jahr einmal besucht. Die Truppen bilden Spalier, durch welche der „Sohn des Himmels“, begleitet von hundert Instrumental- und tausend Vocalmusikern, welche die Fundamental-Glaubenshymne (geschrieben vor mehr als 4000 Jahren) spielen und singen, und von einem glänzenden Beamtengefolge, einherzieht, mit dem Stifter der verbreitetsten Religion, dem Königssohne Buddha, seine Huldigung darzubringen.

Das sind einige erste Blicke auf die Hauptstadt eines Staates, der viel über 300,000,000 Einwohner zählen soll. So wenig Bestimmtes wir bis jetzt auch sehen, so viel ist handgreiflich, daß nur die frechste Unverschämtheit dieses Volk mit einer solchen Hauptstadt und Tausenden blühender Städte und vielen Millionen der meister- und musterhaft bestellten Felder und Gärten, mit Druckereien, Zeitungen und Bibliotheken in jedem Dörfchen als „Barbaren“ bezeichnen kann. Im Gegentheil ist Alles, was man Cultur und Luxus nennt, so ungeheuer und fein und übertrieben ausgebildet, daß man die Chinesen der „Ueberfeinerung“ und Verweichlichung beschuldigen muß. Mit dieser Feinheit werden sie auch nie Freunde der Engländer werden, zu denen nach dem neuesten Kriege auch die Franzosen gehören.

Friede und Vertrag sind in einer Vorstadt Pekings abgeschlossen und unterzeichnet worden. Aber in Canton steht folgende Proclamation der „Bravo’s“ an allen Straßenecken und wird nach Kräften ausgeführt:

„Die Nation der rothhaarigen ausländischen Hunde ist bekannt als eine Nation von Dieben, die oft unser blumiges Königreich der Mitte heimsuchen. Wir, die Bravo’s der Provinz Kwang-tung, bekriegten in dem Jahre 22 des Tao-kwang den Ellot (Capitain Elliot) und enthaupteten Pama (?) am südlichen Ufer. Es ist Schade, daß wir sie damals nicht alle umbrachten. Sie würden dann nicht im 11ten Monat vorigen Jahres mit Hülfe der französischen Teufel, vorgebend, daß sie keine Feindseligkeiten beabsichtigten, die Mauern unserer Stadt zerschmettert, 10,000 Häuser und Läden zerstört, das Volk seiner Habe beraubt, Frauen entehrt und friedliche Leute mit Knütteln niedergeschlagen haben. Sie erließen Proclamationen, nach denen sich unser Volk richten sollte. Wir, die Untergebenen des himmlischen Thrones, hochgepriesen vom Kaiser, wollen uns diesen Barbaren nicht unterwerfen. Es sind blos 2–3000 englische und französische Hunde in unserer Stadt. Wir aber zählen nach Tausenden von Tausenden. Wenn nur Jeder von uns eine Waffe trägt, und jeden dieser Fremden, der ihm begegnet, umbringt, werden wir sie bald alle getödtet haben. Jeder, der mit einem dieser ausländischen Hunde handelt oder ihm Lebensmittel gibt, soll ergriffen und nach den Gesehen bestraft werden. Jeder in Amt und Brod dieser Hunde muß binnen hier und einem Monat seine Stelle verlassen. Wenn nicht, werden seine Angehörigen ergriffen und behandelt, als wenn sie selbst Roth-Kopf-Rebellen wären. Jede Ortschaft, die unsren Bestimmungen entgegenhandelt, wird der Erde gleich gemacht, und deren Bevölkerung bestraft. Jeder, der Blut und Leben hat, ist verpflichtet, den Kummer unseres Kaisers zu theilen. Wer dagegen Bedenken hat, wird als Dieb behandelt, Jeder kann ihn tödten. Die Amerikaner, Spanier und andere fremde Nationen stehen in gutem Vernehmen mit unserm Volke. Die Zerstörung und die Stauung des Verkehrs ist allein durch die englischen und französischen Hunde verursacht worden.“

Die Belohnungen für Engländer- und Franzosenköpfe sind doppelter Art, private von den „Vornehmen“ und officielle, staatliche von dem neuen Gouverneur von Canton. Der jetzige Gouverneur hat folgende Proclamation und folgende Preisliste an die Straßenecken schlagen lassen (in der von Engländern und Franzosen siegreich eingenommenen Stadt!):

„An die Soldaten:

1) Jeder, der einen englischen oder französischen Häuptling fängt, erhält eine Belohnung von 5000 Dollars.

2) Jeder, der einen barbarischen Rebellenkopf abschneidet erhält 50 Dollars.

3) Jeder, der einen barbarischen Rebellen lebendig fängt, erhält 100 Dollars.

4) Jeder, der einen Verräther fängt, wird mit 20 Dollars belohnt.

5) Jeder, dem es gelingt, ein großes Dampfkriegsschiff zu verbrennen, erhält 10,000 Dollars.

6) Jeder, der ein kleineres Dampfschiff verbrennt, erhält 2000 Dollars und wird für künftige Belohnungen empfohlen.“

Dies gilt gegen die Engländer und Franzosen.

Der Friede ist in Peking unterzeichnet: ganz China steht den Engländern und Franzosen offen – mit den Proclamationen obiger Art an den Straßenecken. Das ist keine Oeffnung, sondern ein sehr kostbarer Verschluß, hinter welchem andere Völker handeln und profitiren mögen, aber nicht die „heiligen Alliirten“.

Nutz und Lehre hieraus: Man soll weder einzeln, noch in Gesellschaft in die Häuser und Länder der Leute einbrechen, sondern hübsch anklopfen, ob sie etwas kaufen oder verkaufen oder (dem Bettler) geben wollen.




Blätter und Blüthen.


Eine seltsame Cur. Der Zufall hatte mich während der ersten Wochen meines Aufenthaltes in Paris im Jahre 1854 meine Wohnung in einem freundlichen Hause am südlichen Ende des Boulevard Bourbon nehmen lassen. Die Aussicht ging auf den Arsenalcanal und einen Theil des Platzes Mazas, bekannt durch sein großes Zellengefängniß. Von dem Arsenalcanal gehen zwei kleine Canäle, an welchen die Wäscherinnen singend und plaudernd ihre Arbeit verrichten, bis zu der Gegend, wo die Rue de la Contrescarpe beginnt. Meine Wirthsleute waren ein sehr junges, vielleicht ein Jahr verheirathetes Ehepaar, dessen ganze Familie in einem kleinen, vier Monate alten, rosigen Knäbchen bestand, dem Abgott des Vaters, wie der jungen hübschen Mutter. Herr Bernard, so hieß der junge Ehemann, war ein kleiner Beamter (Commis) im Finanzministerium; die junge Frau, Tochter eines würdigen Gewürzkrämers aus dem Marais, hatte ihrem Gatten wohl auch einige Tausend Franken jährlicher Rente als Mitgift mitgebracht, und so lebten denn die beiden jungen Leute mit einem Einkommen von 3–4000 Franken ganz glücklich und behaglich. Denn so hübsch Madame auch war, so tugendhaft war sie auch, und ihre Ehe wurde nicht durch Auftritte gestört, wie sie bei einem großen Theil der Pariser Gesellschaft so lange an der Tagesordnung sind, bis man sich gegenseitig „arrangirt“, d. h. sich die Erlaubniß gegeben hat, zu thun und zu lassen, was Jedem gefällt. Indessen – man kennt die Unbeständigkeit alles irdischen Glücks und die Versuchungen Asmodi’s.

Herr Bernard gerieth eines Tages in eine Gesellschaft Jugendfreunde, die einen Club im Café Bercy hatten und Monsieur Bernard zu einer Clubsitzung einluden, bei der man sehr viel Haut-Sauterne trank und jenes entsetzlich langweilige Domino spielte, in welchem die Franzosen von heut zu Tage einen Ersatz für vielen andern verbotenen Zeitvertreib zu suchen scheinen.. – So ein Junggesellen-Club ist für einen Ehemann eine sehr gefährliche Klippe, die Erinnerungen und Gewohnheiten des Garçonlebens tauchen wieder auf, der verführerische Einfluß des Kneipenlebens macht seine Macht geltend, und nur zu bald war auch für Bernard das Café Bercy seine zweite Heimath geworden, in die er sich flüchtete, sobald der Dienst in seinem Bureau zu Ende. Amelie, so hieß seine junge Frau, war über diese Umwandlung ihres Mannes, der jetzt oft drei bis vier Mal in der Woche spät Abends mit einem kleinen Rausch nach Hause kam, außer sich. –

Meine Wohnung war nur durch eine ziemlich dünne Wand von dem Schlafgemach der beiden Gatten getrennt, und so war ich Ohrenzeuge von Gardinenpredigten, die an Beredsamkeit und Energie des Ausdrucks denen Bossuets gleichkamen.

Aber – consuetudo est altera natura, sagt der Lateiner. Bei Monsieur Bernard war das abendliche Kneipenleben schon wieder zu sehr andere Natur geworden, als daß die Vorstellungen seiner jungen Frau, die jedenfalls weiter als er sah, und in diesem Anfang den Ruin ihres Glückes erblickte, ihn hätten von seiner Gewohnheit abbringen können.

Eines Abends – es war im Monat October – kam denn Herr Bernard gegen elf Uhr wieder aus dem Café Bercy mit einer sehr weinheitern Laune nach Hause zurück. Ich war noch wach und hörte, wie er mit einem lustigen Liedchen trällernd in das Zimmer seiner jungen Gattin trat.

„Guten Abend, meine Liebe,“ sagte er und bemühte sich vergebens, eine feste Haltung anzunehmen.

Die junge Frau antwortete nichts; offenbar kämpfte in ihrer Brust ein gewaltiger Entschluß. Endlich hatte sie sich so weit gefaßt, daß sie sprechen konnte, und indem sie ihren berauschten Mann bei der Hand ergriff und ihn zur Wiege des kleinen Gustav führte, sprach sie mit einer Entschlossenheit, welche den Zuhörer beben machte:

„Höre, Bernard, auf das, was ich Dir jetzt sage. Deine Lebensweise, die Du seit einiger Zeit führst, ruinirt uns; sie tödtet unser Glück und das unseres Kindes. Aber es ist ein langsamer, qualvoller Tod. Nun höre mich: ich will nicht diese Marter eines täglich sich wiederholenden Unglückes, ich fürchte mich vor diesem langsamen, qualvollen Tode und deshalb

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_619.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)