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verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

Ein aufgelöstes Räthsel.
Von E. Pirazzi in Offenbach.
(Schluß.)
Ihre Flucht. – Einige Fragen. – Carolinens Jugendjahre. – Der Besuch im Zuchthaus. – Ihre Bekenntnisse. – Woher sie ihre Betrugsgeschichte genommen. – Schluß.

Das räthselhafte Verschwinden Carolinens gab natürlich zu den verschiedensten Vermuthungen Anlaß. War sie selbstständig, aus eignem Antrieb entwichen, oder war sie entführt worden? War sie entflohen, ihrem Leben ein Ende zu machen, oder, den Schauplatz ihrer seitherigen Thaten verlassend, auf neue Abenteuer auszuziehen?

Wenn sie, wie Viele anzunehmen gereizt waren, in Folge einer Entführung verschwunden war, so konnte dies, allen Umständen nach, keinenfalls eine gewaltsame gewesen sein; vielmehr schien es dann eine Entführung mit ihrer eigenen Zustimmung zu sein, eine Entführung, zu der sie möglicher Weise überredet worden, um sie in irgend einen Hinterhalt zu locken und dort, wie Kaspar Hauser, vielleicht zu tödten. Denn zu anderm Zweck schien eine Entführung nicht anzunehmen, muthmaßlich also stand diese mit ihrer Geschichte in directem Zusammenhang.

Mit ihr verschwunden waren von beweglichen Gegenständen, außer der Kleidung, die sie am Leibe trug, nur noch jene sechs neuen Hemden, mehrere Halstücher und ein grauwollener Shawl – sämmtliche Gegenstände ihr gehörig.

Das Haus, worin Herr Eck wohnte, lag am äußersten südwestlichen Ende der Stadt, an der nach Darmstadt führenden Chaussee, von wo sich weite Wiesen nach den städtischen Promenaden und Waldungen hinziehen. Jene Promenade führt von der Darmstädter auch zur Frankfurter Chaussee hinüber. Diesen Weg scheint sie eingeschlagen zu haben, denn ein hiesiger Mann begegnete ihr selbigen Morgens unfern der Stadt auf dem Wege nach Frankfurt. Sie trug nichts in der Hand (muß also wohl jene Kleidungsstücke schon vorher fortgeschafft haben) und schien sehr eilig.

Auf seine Frage „wohin?“ antwortete sie, sie habe für ihren Papa etwas zu besorgen.

Daß ihre Entweichung keine ganz selbstständige gewesen, darauf schien ihre Unterredung vom vorigen Tage mit einer jener Personen hinzudeuten, mit denen ihr der Umgang schon früher untersagt worden war – eine Unterredung, die sie gegen Herrn Eck so entschieden in Abrede gestellt hatte.

Obgleich die Sache selbst hier großes Aufsehen erregte und auch den Weg in einige öffentliche Blätter nahm, so vermied man doch absichtlich, öffentliche Schritte in dieser Angelegenheit zu thun, und suchte mehr im Stillen, unter möglichster Vermeidung allen Eclats, der Verschwundenen auf die Spur zu kommen. Aber es wollte sich keine solche zeigen, bis endlich nach Verlauf von vierzehn Tagen, am 9. August, die bereits Eingangs erwähnte Botschaft des Neustädter Landgerichts hier eintraf und plötzlich Licht in das Dunkel brachte – freilich auch nebenbei neue Räthsel mit sich im Gefolge führte.

Nach jener officiellen Mittheilung war nicht daran zu zweifeln, daß „Caroline Kunigunde Lechner“ Offenbach freiwillig verlassen hatte, um sich ihren heimathlichen Behörden wieder zu überliefern, Sie hatte vermuthlich von Frankfurt aus die bairische Eisenbahn bis Aschaffenburg benutzt – (wie sie das Fahrgeld bestritt, ist uns nicht bekannt geworden; vielleicht hat sie, da sie kein Geld von hier mitnahm, einige von ihren Kleidungsstücken verkauft, möglicherweise auch den Ring, den ihr einst ihre Frankfurter Beschützerin geschenkt, und übrigens fehlte es ihr ja nie an Mitteln zu ihren Zwecken) – um rascher in’s Bairische hinüberzukommen, denn schon am Tage nach ihrer Flucht wurde sie zu Hessenthal im Spessart, etwa 1½ Stunden östlich von Aschaffenburg, festgenommen. Sie befand sich dort auf der directen Landstraße nach ihrer mittelfränkischen Heimath; diese Straße führt nämlich über Würzburg nach Nürnberg: zwischen beiden liegt Neustadt, in dessen Frohnfeste die Arrestantin jetzt zur Untersuchungshaft eingethan wurde. Die aus Offenbach mitgenommenen Halstücher und sechs Hemden führte sie bei sich.

Kaum waren diese Nachrichten in’s Publicum gedrungen, als man sich der Ansicht zuzuneigen begann, die von einigen Seiten her aufgestellt wurde: daß „Caroline“ wohl deshalb die Flucht ergriffen habe, um nicht durch ihre bevorstehende Taufe und Confirmation eine neue und schwere Sünde auf sich zu laden, indem sie mit beiden heiligen Handlungen, wenn sie dieselben zum zweiten Mal über sich ergehen lasse, ein frevelhaftes Spiel treibe. Denn daß sie Taufe und wohl auch Confirmation schon früher empfangen, unterlag jetzt wohl keinem Zweifel mehr. War sie aber gar ursprunglich katholischer Confession, so konnte es mehr noch der Uebertritt zur evangelischen Kirche gewesen sein, der sie von hinnen trieb.

Dagegen machte Herr Eck (und ebenfalls nicht ohne Grund) eine andere Ansicht geltend. Nicht sowohl die Furcht vor einer neuen Gewissensschuld, sagt er, hat die Gewissenlose in die Flucht getrieben – bereitete sie sich doch seit Monaten schon mit ziemlicher Ostentation auf Taufe und Confirmation vor, und sprach auch in dem mitgetheilten Briefe an die Frankfurter Dame in Bezug darauf als von „ihrem Glücke“ –, sondern wohl hauptsächlich die Ueberzeugung, daß mein Glaube an ihre Wahrhaftigkeit einen so gewaltigen Stoß erlitten, daß ich ihr gesagt: „Jetzt bist Du entlarvt!“ daß somit ihr festester Rückhalt und Schutz in mir so tief erschüttert worden, und sie sich fortan der schärfsten, mißtrauischsten Ueberwachung von mir zu gewärtigen hatte.

Die nach dieser Lösung noch immer ungelöst gebliebenen, ja zum Theil sich erst neu ergebenden weiteren Räthsel und Fragen aber sind hauptsächlich diese:

1) Was bestimmte „Caroline B.“ in Wirklichkeit, gerade jetzt ihre Maske fallen zu lassen und sich zur „Kunigunde Lechner“ unsaubern Andenkens zu entpuppen, um eine ganz leidliche Situation und eine sich ihr durch Adoption möglicherweise noch bietende erfreuliche Zukunft wieder mit der Vagabundenlaufbahn zu vertauschen, in deren Hintergrund ihr von Neuem die Zwangsanstalt winkte?

2) Wenn sie von Profession eine „Vagabundin“ ist, wie erklärt sich’s da, daß sie während ihres ganzen hiesigen Aufenthaltes sich nachweislich keiner einzigen unsittlichen und auch keiner unehrenhaften Handlung im Punkte des Eigenthums schuldig machte?

3) Woher nahm sie den Stoff zu ihrem wunderbaren Märchen, den sie in einer Weise bearbeitete, der jedem Dichter Ehre machen würde? Hat sie ihn aus Romanen geschöpft und „frei bearbeitet,“ oder ist Alles die originale Erfindung ihres eigenen Genie’s gewesen? Oder aber ist am Ende doch ein Titelchen Wahrheit an der Geschichte, und diese vielleicht von einer andern Person („Adolf!“), die sie auf ihren Irrfahrten, kennen lernte, zum Theil so erlebt worden? Was hat sie überhaupt in dieser Hinsicht erlebt oder erfahren? Hat sie ein Schloß, wie das beschriebene, und eine Waldwohnung, wie die geschilderte, wirklich einmal irgendwo gesehen, eine Zeit lang darin gelebt, oder sonst in Beziehungen dazu gestanden?

4) Woher hat sie ihr Ungarisch?

5) In welcher Beziehung steht sie zu dem berüchtigten Hause bei Stockstadt?

6) Warum war die Kluge darin so sehr unklug, daß sie, wenn doch einmal eine Maske, keine liebenswürdigere vornahm, daß sie sich nicht eifriger bestrebte, durch zuvorkommendes, freundliches Wesen sich alle Herzen zu erobern, was ihr, der so in Verstellung Geübten, doch um so weniger schwer fallen konnte, als ihr im Anfang alle Herzen theilnehmend entgegenschlugen, und was ihr nicht abzusehende Vortheile bringen mußte?!

Als die Seitens der diesseitigen Behörden wiederholt und dringend von dem Neustädter Landgerichte nachgesuchten Mittheilungen über die Antecedentien der Demoiselle „Caroline B.“, geborenen Kunigunde Lechner, der Himmel weiß warum, ausblieben und immer ausblieben, beschlossen zwei hiesige, mit ihrer Offenbacher Geschichte und ihr selbst völlig vertraute Männer sich persönlich nach Neustadt und zu „Carolinen“ auf den Weg zu machen, um an Ort und Stelle aus dem klaren Borne eigner Wahrnehmung und Anschauung zu schöpfen. Es waren zugleich Männer, die das lebhafteste moralische Interesse an ihr nehmen, und zu denen auch Caroline das vollste Vertrauen haben mußte: der Geistliche, welcher sie demnächst confirmiren sollte, und jener Candidat und Lehrer, der als Schwiegersohn der K.’schen Eheleute so lange Zeit in tagtägliche

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verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1858, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_747.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)