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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

schlafen lassen. Ihrem Drange nach Mittheilung doch einigermaßen zu genügen, habe sie sich in vertrauteren Umgang nur mit ungebildeten Personen niedern Standes, mit Dienstboten u. s. w. eingelassen, von denen sie sich nicht so scharf beobachtet wußte, und bei denen sie sich daher unbefangener geben konnte.

Mit Gefühlen besonderen Dankes erinnerte sie sich auch der im K.’schen Hause genossenen Wohlthaten. Es sei ihr oft hart angekommen, so unfreundlich gegen Frau K. zu sein und ihr soviel Anlaß zu Aerger zu geben; aber sie habe so thun müssen, um nicht durch die Gefühle von Dankbarkeit, Liebe und Freundschaft warm zu werden, und in einer schwachen Stunde Alles zu verrathen. So panzerte sie denn ihre Brust mit dreifachem Eis und Erz, und wenn ihre Gefühle wirklich dann und wann zum Durchbruch kamen, so geschah es in Gestalt jener Thränen, für deren Erklärung sie dann wieder, um sich nicht zu Bekenntnissen drängen zu lassen, zu neuen Lügen greifen mußte. So umstrickte sie sich immer mehr mit ihrem Lügengewebe und fiel zuletzt in ihre eigenen Netze. Die für ihre Rolle beste Politik: nur wenig zu sprechen, um sich nicht zu versprechen und auf alle Fragen meist erst nach öfterer Wiederholung derselben zu antworten, um inzwischen Zeit zu gewinnen, sich die Antwort reiflich zu überlegen – dieses Verfahren, im Anfang ihres Hierseins auf ihrer Unkenntniß der Sprache nur zu erklärlich, mußte ihr später, als dieser Grund wegfiel, natürlich für baare Unliebenswürdigkeit, Maulfaulheit und Verstocktheit gedeutet werden. Die K.’sche Familie hatte es so oft beklagt, daß sich Caroline nicht familiärer an sie anschließe, allen Bemühungen zum Trotz nicht herzlicher, zutraulicher werde – jetzt ist das Alles erklärt und das Räthsel ihrer Unliebenswürdigkeit dazu.

Zu verwundern bleibt, daß Kunigunde bei ihren Protokollaussagen ihres wackern Lehrers Eck mit keiner Sylbe gedacht! War es vielleicht eine unbesiegliche dumpfe Gewissensscheu, die sie hinderte, auch seiner dankend und freundlich zu gedenken, seiner, der unter Allen am meisten für sie gethan, der am schmählichsten von ihr betrogen, am tiefsten von ihr gekränkt wurde? Fast will es uns so bedünken, denn daß sie ihm Zuneigung geheuchelt, was sie im Grunde gegen Niemand gethan, wo sie keine empfand, vermögen wir nicht anzunehmen. Wie sehr tief sie sich früher als ihm verschuldet bekannte, beweist am schlagendsten eine Scene, von der wir nicht glauben können, daß sie nur gespielt war. Eines Tages nämlich, als sie sich mit ihm allein beim Unterricht befand und er ihr in seiner tiefeindringlichen Weise zu Gemüth und Gewissen sprach, sank sie plötzlich laut weinend vor ihm in die Kniee und rief mit einer Gebehrde höchster Verehrung gegen ihn: „Sie sind mein Retter!“ …

Herr Eck schildert noch jetzt den Eindruck dieser Scene als hochergreifend und unvergeßlich, und wenn sie wirklich etwas dem nur entfernt Aehnliches in diesem Moment empfand, so müssen wir um so fester an die Möglichkeit ihrer Rettung glauben.

Den Stoff zu ihrer Betrugsgeschichte gab sie an, größtentheils „aus Schriften,“ nicht aber aus dem wirklichen Leben geschöpft und dann, mit eigenen Zuthaten versehen, durch Combination weiter ausgeführt und in freier Weise bearbeitet zu haben. Die Geschichte von Kaspar Hauser, die ja ganz in dortiger Gegend, besonders aber in Nürnberg und Ansbach spielte, kann Kunigunden nicht unbekannt und auf ihren Entschluß nicht ohne Einfluß geblieben sein. Sollte sie aber nicht vielleicht auch einmal die Erzählung „Heinrich von Eichenfels,“ vom Verfasser der Ostereier gelesen haben, die auf allen Jahrmärkten um ein Geringes dem Volke feilgeboten wird? Manches in ihrer „Geschichte“ scheint auf eine „freie Benutzung“ dieser Erzählung hinzudeuten. Der Vater Heinrich’s, der Graf von Eichenfels, zieht in’s Feld und wird verwundet; Heinrich wird von einer Zigeunerin als kleines Kind aus dem Schloß geraubt und in eine verborgene Gebirgshöhle zu Räubern gebracht; diese liefern dem unterirdischen Haushalt Brod, Fleisch und Gemüse. Die alte Zigeunerin (eine Art Bertha!) gibt dem kleinen Heinrich gut zu essen, sein geistiges Leben bleibt aber ohne alle Nahrung und besonders sagt sie ihm nie ein Wort von Gott. Ein Miniaturbild seiner Mutter (das Medaillon) hat die Alte zugleich mit dem Kinde gestohlen. Bei seiner Entweichung aus der Höhle nimmt Heinrich dies Bild mit. Sein Erstaunen beim ersten Anblick der Sonne! Er kommt zu einem Einsiedler, mit dem er später auf einem Wagen durch Feld und Wald fährt, seine Eltern zu suchen u. s. w. Man wird zugeben müssen, daß diese Erzählung ganz beachtenswerthe Parallelen mit der Carolinens bietet. Leider jedoch haben wir gar nichts Näheres erfahren können, aus welchen „Schriften“ sie schöpfte.

Die wesentlichsten Punkte dieses über Kunigunde Lechner vom Landgericht zu Neustadt aufgenommenen Actenstücks fanden die Offenbacher Herren aus ihrem eigenen Munde bestätigt, als sie dieselbe in Kloster Ebrach besuchten. Sie war oder schien Anfangs durch das Erscheinen zweier ihr noch kürzlich so nahestehender Personen sehr niedergeschmettert, und ihr ganzes Wesen bekundete die Zerknirschung aufrichtiger Scham und Reue. Die Thränen flossen ihr wieder reichlich, und sie erschien so angegriffen, daß man sie sich niedersetzen hieß.

Ueberhaupt kam sie in einem geistig wie körperlich sehr herabgestimmten Zustand in Neustadt an, was sie besonders damit erklärt haben soll, daß es eine furchtbare Anstrengung gewesen sei, sich immer so zusammenzunehmen, daß man sich mit keinem Worte verrathe. Sie habe deshalb auch gar viele Nächte schlaflos zugebracht. Im Anfang konnte sie vor Thränen und Erschütterung nicht reden, allmählich aber schien sie ihre Kraft zusammenzunehmen, und begann, auf die in milder Weise an sie gerichteten Fragen zu antworten. Ihr jetzt Buße und Moral zu predigen, war dies natürlich nicht der Ort noch die Stunde. Im Uebrigen aber enthielten ihre Aussagen und Mittheilungen nichts Wesentliches, was nicht schon in dem ihre sämmtlichen Geständnisse und Bekenntnisse umfassenden gerichtlichen Protokolle enthalten gewesen, und im Vorherigen von uns in Kürze wiedergegeben ist.

Es war in der Abendstunde, als dieser Besuch bei der Gefangenen stattfand, und man kann sich denken, wie erschütternd es auch für die beiden Männer gewesen sein muß, diese ihnen so sehr am Herzen liegende „verlorene Tochter“, diese „Caroline“, im linnenen Zuchthauskleide vor sich zu sehen.

Die Geschichte Carolinens endet hiermit, wir werden uns aber erlauben, noch einmal später auf sie zurückzukommen, und zugleich über das fernere Schicksal des Mädchens einige Fragen aufzuwerfen.




Zwei Weihnachtsabende.


„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
 Klingt ein Lied mir immerdar;
Ach, wie liegt so weit, ach, wie liegt so weit,
 Was mein einst war!“


Der Klang tönt wieder in tausend Herzen in dieser Zeit; auch in dem meinen klingt er an und leise wieder! Es ist ein eigen Ding um alle Jugenddichtung: sie spinnt sich wie ein goldener Faden in’s ernste Mannesalter hinüber; und was dieses auch immer dem Menschen gebracht und wie es denselben verändert haben mag: selbst das Herz des Mannes hat eine Stelle, welche sie erschüttern kann mit ihrer hinreißenden Kraft und Lieblichkeit. Wir Alle empfangen jedes Jahr das Christkind in unserem Herzen, mögen sich unsere Anschauungen verändert haben, wie sie wollen; wir Alle werden wieder zu Kindern, – und wäre es nur für Minuten! – wenn der Kinder Christnachtsfreude auch in uns erglüht!

Das habe ich nirgends lebendiger gefühlt, als in der Fremde, wenn der Kalender mir sagte, daß heute daheim die Lichter flimmerten und leuchteten – hinein, tief hinein in tausend Kinderherzen! Ich verspürte dann immer eine Weiche im Gemüth, wie sie wohl Kinder haben; ich empfand eine Sehnsucht, ein wahres Heimweh nach dem Vaterhause, daß ich über mich fast hätte zürnen mögen, wenn ich es nur gekonnt hätte. In gar verschiedenen Städten, unter gar verschiedenen Menschen habe ich die liebe Christnacht gefeiert; zwei Mal aber hat sie mich ganz besonders ergriffen. Der eine Weihnachtsabend gellt mir noch heute wüst und hohl in meine Erinnerung herein, der andere klingt mir voll und gewaltig in der Seele wieder. Ich will beide zu schildern versuchen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 749. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_749.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)