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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

zwölf bedruckte Exemplare liefert. Die Art nun, die reißende Schnelligkeit, spielende Leichtigkeit und Sicherheit, wie die kleinen, eisenräderigen, von dicken, ledernen Riemen gedrehten, an den äußersten Enden mit lattenartigen Krallen klappenden, reißenden, wilden und doch so sicher und exact greifenden, weiter schlingenden, herauswindenden und glatt niederlegenden drei Etagen hohen sechs Beine dieses Käfers arbeiten, dies ist eigentlich das Wunder. Ich weiß es recht gut, es geht Alles natürlich zu. Es ist keine Hexerei, nein. Aber ich begriff nichts, ich wollte nichts begreifen und blieb dabei, es sei der wunderbarste, aus mehr als 1500 mathematisch genau geformten Gliedern, Muskeln und Nerven combinirte, dampfbeschwingte, eiserne Riesenkäfer, der vor meinen Augen während der Stunde, die ich ihm zusah, 15,000 scheunthorartige weiße Stücke Papier nahm, sie bedruckte und bedruckt glatt übereinander 15,000 Mal wieder hinlegte, so daß die vielen dienstbaren Geister, die athemlos um ihn herumwirthschafteten, nichts weiter zu thun hatten, als ihm weißes Papier hinzulegen und bedrucktes wieder wegzunehmen. Funfzehntausend in der Stunde! Wenn das Guttenberg wüßte! Und Doctor Faustus! Dreißigtausend in der Stunde liefert er in Amerika. Es ging hier blos deshalb so langsam, weil die Jungens noch nicht recht eingeübt sind. Alle fünf bis sechs Minuten klingelte es: die Maschine stand still, weil bald hier, bald da ein dienstbarer Geist nicht schnell genug gewesen war. Aber sie verpustete sich immer blos etwa eine Minute. Dann schrillte und pfiff es wieder und die Bogen flogen und wirbelten wieder schneller, als das Auge folgen konnte, immer sicher, exact, niedlich, reinlich, prompt und wundervoll.

Ich habe hier natürlich nicht den fernsten Gedanken an eine technische Beschreibung. Sie sieht wie eine fabelhafte Riesen-Kreuzspinne aus und arbeitete vor den Augen etwa so und so. Weiter sah ich nichts, weiter wollte ich vor der Hand nichts sehen und sagen.

Solche unersättliche Maschinen, solche Tausende von Papier-Scheunthorflügeln brauchen Futter. Ich habe hier eine Nummer der Times vom 7. Mai 1850 mit 72 Foliospalten oder 17,500 Zeilen, die aus 1,125,000 Buchstaben bestehen. Sie ist nicht immer so groß, besteht aber in der Regel aus 12–15,000 Zeilen, von denen zwei Fünftel bis die Hälfte Abends vor zehn Uhr noch nicht geschrieben sind. Um acht Uhr früh, d. h. zehn Stunden später, liegt sie in 60–80,000 Exemplaren überall zum Frühstück bereit. Dasselbe gilt von den andern Morgenzeitungen, von denen einige, wie der „Star“, auch jeden Abend noch einmal neu erscheinen.

Fast alle Zeitungen Londons erscheinen in der City, welche zwischen vier bis fünf Uhr ihre Geschäfte schließt. Dann strömen allemal Tausende heraus, zwischen denen sich jedesmal Tausende hineindrängen müssen: die Nachtvögel der Presse, Schreiber, Setzer, Drucker etc. Ihre Geschäfte beginnen, wenn gewöhnliche Sterbliche schließen, und dauern bis 2–3 und 8 Uhr Morgens. Die Zeitungsschriftsteller geben ihre Abendgesellschaften Vormittags. Mancher hat seit einem Menschenalter keinen Morgen gesehen, geschweige eine aufgehende Sonne. Ihre Sonne geht immer im Westen auf, nämlich wo und wenn unsere untergeht.

Einen Blick in die Setzersäle oben: Ameisenhaufen, Metallstückchen in kleinen schmalen Streifchen alle 24 Stunden hundertcentnerweise aufpickend und wieder zerstreuend. Jungens dazwischen stets mit Fahnen und Papierstreifchen, noch naß, umherschießend, Trepp auf, Trepp ab aus allen möglichen Etagen und Zimmern. Was für mysteriöse Herren sitzen in letzteren? Vor Allen die mysteriöse, gewöhnlich kahlköpfige Majestät des „Editor’s“, der immer bloß „Wir" heißt in der Zeitung, dessen Brauen, wie einst die Jupiters auf dem Olymp, Throne und Ministerien erschüttern oder stürzen, umgeben von einem diplomatisch demüthigen Generalstabe, dem „reporter“ aus dem Parlamente oder von einem Meeting, manchmal mit Eisenbahn-Extrazug eben erst aus einer weiten Provinzialstadt angekommen,[1] dem Sub-Redacteur, der wortreiche Mittheilungen zusammenstreicht und aus Bergen von Briefen, „Blaubüchern,“ Provinzial-Zeitungen etc. Lesbares auszieht, dem Telegraphen-Redacteur, der auf die Drähte horcht, welche 12–20 an allen Eisenbahnen, über und unter der Erde und unter dem Meere weg Neuigkeiten hereinzucken, dem Correspondenzen-Redacteur, der von Indien und China und aus aller Herren Ländern täglich Briefe mit doppeltem und dreifachem Porto bekömmt, wovon im Durchschnitt nur ein Fünftel Platz finden kann, obgleich Alles mit Gold bezahlt wird, den Chefs verschiedener Abtheilungen aus verschiedenen Zimmern, die bis zur letzten Minute mit Unglücksfällen etc. herbeiströmen. Wer bringt all’ das Unglück? Das ist die Sache der literarischen Nachtvögel der Straße, der „penny-a-liners“ (die früher 1 Penny für die Zeile, jetzt 1½ Penny bekommen), die mit Vervielfältigungsschreibeapparat bewaffnet Tag und Nacht in der Nähe von Spritzenhäusern und Polizeistationen lauern, um Feuersbrünste, Morde, Selbstmorde, die schauderhaftesten der täglichen Schauer- und Schandthaten Londons mit spitzem Stahlgriffel auf eine dicke Lage von abwechselnd weißen und schwarzen Papierstreifen 5–8mal mit einmaligem Schreiben durchzudrucken und dann die so gewonnenen Exemplare athemlos in die verschiedenartigen Redactions-Briefkasten zu werfen.

Die englischen Zeitungen sind, wie die englischen Betten, zweischläfrig. Dies ist Grund weiblicher Corruption. Die eine Hälfte der Zeitungen enthält immer Polizei- und Mordgeschichten. Diese liest die Frau mit den Töchtern, Mann und Bruder überfliegen die politischen. Gelesen wird längst nicht mehr. Es ist unmöglich. Die 800 Zeitungen und Journale Englands sind fast alle ungeheuer reich und umfangreich, dabei eng gedruckt. Wer nur eine alle Tage lesen wollte, wäre nach spätestens einem Vierteljahr wahnsinnig oder verhungert. Niemand hat Zeit zum Lesen. Man guckt drüber hin und wird dadurch confus und leichtsinnig. Wollte man genau lesen, bliebe keine Zeit zum Geldmachen und auch kein Kopf dazu. Das genaue Lesen richtete vielleicht noch ärgere geistige und moralische Verwüstungen an. Die Zeitungen sind nicht ehrlich, sie vertreten keine Grundsätze und schwanken mit der öffentlichen Meinung sklavisch hin und her. Die Times hat im Verlauf weniger Jahre alle Dinge, Menschen und Staaten, je nach den Tagesinteressen Englands in den Staub getreten und in den Himmel erhoben, am eclatantesten Napoleon.

Die englische Tagespresse ist die gigantischste Industrie der Erde, aber man beneide England nicht darum. Sie ist über sich selbst hinausgewuchert, und durch ihre ungeheuere Massenhaftigkeit, Schnelligkeit und Principlosigkeit längst ungenießbar, ihre eigene Ohnmacht geworden. Allen Respect vor der Tagespresse, dieser Lunge und diesem Herzen alles cultivirten Völkerlebens, wo sie von unabhängiger, edler Intelligenz, von Principien, die sich aus den Parteistandpunkten gebildeter Menschen und Interessen nothwendig und natürlich ergeben und durch ihre Reibungen das geistige und politische Leben bedingen, geleitet und geschrieben wird; aber nur den bedingten Respect vor der englischen Tagespresse, deren etwa 500,000,000 Pfund Betriebs-Capital zu mehr als zwei Dritteln den Papier- und Schwärzefabrikanten, den Typengießern, Maschinenbauanstalten und sonstigen Industriellen gehört, die in diese gigantische Preßfreiheit eine Censur und Abhängigkeit bringen, welche die Reste von Freiheit, die die regierenden Classen (nicht die Regierung, nicht politische, sondern Classen und Kasten-Interessen) noch übrig lassen, vollends zu einer Chimäre verflüchtigen.

Die Presse ist in ihren Mitteln eine gewaltige, großartige, gebildete Industrie, aber nicht in ihren Zwecken. Durch die ungeheueren Capitalien, welche Industrielle in der englischen Presse gut haben, sind die Zwecke von den Mitteln überwuchert worden. Nichts ist deshalb gefährlicher für die deutsche Presse, als sich von der englischen abhängig zu machen und fast alle Tage Times-Urtheile als Autoritäten zu citiren. Deutschland werde frei, vor Allem in der Presse!




  1. Um die berühmte Rede Bright’s in Manchester, die Abends um 7 Uhr schloß, Morgens 8 Uhr fix und fertig zu bringen, hatte die Times einen Extrazug für ihren Reporter bestellt, der vor 16 ihretwegen geänderten Zügen vorbei die 112 Meilen in 2½ Stunden zurücklegte und vor 12 Uhr Nachts in der Redaction war, wo der stenographische Bericht, in Worte übersetzt, gesetzt und früh um 8 Uhr in etwa 80,000 Exemplaren mit der Zeitung gedruckt war.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 754. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_754.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)