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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

„Und das wäre Alles?“

„Vielleicht ist er auch noch etwas mehr.“

„Wie heißt er?“

„Wozu ein Name? Ich werde Ihnen den alten, wunderlichen Kauz vorführen. Kaufen Sie ihm etwas ab. Dann mag er sich Ihnen selbst nennen. Ich glaube, er wird Ihnen gefallen, und Sie werden mir die Bekanntschaft Dank wissen.“

„Fast glaube ich, das ist kein gewöhnlicher Mann. Ich sehe es an seinen Augen, an seiner Stirn, an seiner ganzen Erscheinung. Er erinnert mich an Beethoven.“

Von dieser Bemerkung frappirt, brach ich das Gespräch ab.

Zwei Tage später trat gegen Abend der alte Musikalienhändler bei mir ein. Er pflegte mich oft zu besuchen; er wußte, wie lieb ich ihn hatte. Und auch er war mir gewogen. Ich stellte ihm einen Becher Wein auf den aufgeklappten Flügel im Nebenzimmer. Bald saß er vor dem Instrument und ließ die Finger leise über die Tasten hingleiten. Es klang herüber wie flüchtige Geistergrüße. In diesem Augenblick trat unsere Primadonna herein. Sie pflegte jeden Abend zu kommen. Ich winkte ihr zu und deutete auf den Spielmann im Nebenzimmer, den die Dämmerung eben sanft einschleierte. Sie nickte wie im Einverständniß und als wisse sie wirklich schon, wer er sei. Still und horchend saß sie auf dem Sopha. Aus dem dunkler werdenden Zimmer säuselten die Töne zu uns heraus. O Ohnmacht der menschlichen Sprache, wenn sie das tiefste, süßeste, heiligste Seelengeheimniß enthüllen soll! Dazu sind ja eben nur die Töne da; wozu brauchten wir sie, wenn die Sprachlaute es vermöchten? Hier wurde ein solches Geheimniß ausgesprochen. Das vermag nur ein musikalischer Genius. Die Andern hämmern, klimpern, lärmen, rasen auf den Tasten herum, daß Einem die Ohren gellen. Sie können kein Geheimniß aussprechen, denn sie wissen keins. Aber nur eine tiefe Seele versteht die wahre Sprache. Die Andern sitzen dabei und hören – Noten abspielen.

Meine Dame verstand den Mann da drin im dämmerigen Zimmer, und seine flüsternde Sprache drang ihr in die Seele. Ich sah im letzten Tagschein ein paar Thränen in ihren Augen schimmern. Ihre Brust hob sich mächtig, und doch hörte man sie nicht athmen. Der Spielmann verlor sich immer tiefer in seine wunderbaren träumerischen Phantasien. Die Nacht hüllte uns mehr und mehr ein. Niemand regte sich; man hörte nur die leisen, sehnsüchtigen, fröhlichen, neckischen, wunderbaren Töne. Sie klangen wie sich ein Dichter die Flügelschläge kleiner Engel vorstellen mag.

So war wohl eine Stunde vergangen (wir hatten das Zeitmaß verloren), als der Spielmann nach Licht rief. Es wurde zuerst in unser Zimmer gebracht. Der Virtuos kam heraus, sah die fremde Dame scheu an und schien von ihrer Anwesenheit wenig erbaut. Meine Frau bat ihn weiter zu spielen; er versetzte verdrießlich: „Ja, für Sie! Die andre Dame darf es nicht hören.“

Nun spielte er mehr mit Kunst. Doch war das Meiste hinreißend schön. Plötzlich stand er auf, nahm den Hut und verließ uns mit kurzem Gruße.

„Mein Gott!“ rief die Primadonna, „ich erwache wie von einem Rausche. Nie hab’ ich zartere, reinere Seelentöne vernommen. Dieser Mann ist ein großer lyrischer Tondichter. Aber wer ist der wunderliche Herr, der an meine Ohren das seltsame Begehren stellte, nicht zu hören? Sie sind mir seinen Namen noch schuldig.“

Johann Ludwig Böhner ist sein Name, gewöhnlich vom französischen Titel seiner im Stich erschienenen zahlreichen Compositionen „Louis Böhner“ genannt.“

„Louis Böhner, der originelle, melodienreiche Tonschöpfer! Den wir Alle noch kennen, die jemals Musik getrieben!“ rief die Dame überrascht. „Aber wie ist mir denn, hab’ ich nicht sagen hören oder gelesen, er sei geisteskrank?“

„Daß er von Paradoxien, Bizarrerien und Futilitäten, zuweilen auch von fixen Ideen nicht frei ist, leidet keinen Zweifel, und Sie haben eben mit seiner göttlichen Tonmalerei auch davon eine Probe erhalten; ob er wirklich jemals im schlimmsten Sinne geisteskrank war, weiß ich nicht, wir haben eben kein anderes Wort für seine Abnormitäten.“

Die entzückte Sängerin erinnerte sich einer journalistischen Mittheilung von dem (vor 25–30 Jahren) so viel genannten Wit von Dörring über Louis Böhner, nach welcher dieser im Königsschlosse zu Kopenhagen eine seltsame, allerdings von Geistesverwirrung zeugende Scene mit einer königlich dänischen Prinzessin gespielt haben sollte. Auch behauptete sie, man habe ihr von gut unterrichteter Seite versichert, Böhner sei das Original zum Kapellmeister Kreisler in E. Th. A. Hoffmanns Kater Murr. Beide hätten zusammen in Bamberg gelebt und seien als musikalische Genie’s viel miteinander umgegangen. Ebenso versicherte sie, K. M. v. Weber habe das Motiv des Freischütz von Böhner entlehnt, und die beliebte Arie: „Wir winden dir den Jungfernkranz“ sei Böhner’s Erfindung.

Ich konnte über keins dieser Dinge Auskunft geben. Doch hatte ich die letztere Behauptung schon einige Male von Musikkundigen aussprechen hören. Mir war die Sache auf folgende Weise erzählt worden. Ein Böhnersches Concert enthalte allerdings eine Stelle, welche mit dem Thema des Freischütz nahe verwandt sei. Von einer eigentlichen Entlehnung dürfe man aber doch nicht reden. Was den genannten Brautjungfernchor betreffe, so habe Weber während seines Aufenthaltes beim Prinzen Friedrich (dem spätern letzten Herzoge) von Gotha auf einer Dorfkirmeß in dem erfurtischen Dorfe Alach einen Tanz spielen hören, den er für eine alte Volksmelodie gehalten, der aber eine Composition von dem in der Nähe Alachs, in dem gothaischen Dorfe Töttelstedt gebornen und aufgewachsenen L. Böhner gewesen sei. Und diesen Tanz habe Weber zu seinem berühmten Chor benutzt.

Meine Gesangskünstlerin bat mich angelegentlich, ihr den wunderlichen Tonkünstler zuzuführen. Meine Bemühungen, ihren Wunsch zu erfüllen, waren vergebliche, da man nie wissen kann, wo Böhner, der sich fast immer auf der Wanderschaft befindet, eben verweilt, beziehentlich wohnt. Er kam nicht wieder, und die Dame mußte abreisen, ohne seine nähere Bekanntschaft gemacht zu haben. Sie nahm mir aber das Versprechen ab, ihr über sein Leben und künstlerisches Wirken Aufschlüsse zu verschaffen. Ich wandte mich deshalb später an ihn, und er machte mir biographisch-aphoristische Mittheilungen, die ich heute, nach langen Jahren, auf Antrieb unseres gemeinschaftlichen Landsmannes und Freundes Ernst Keil, dem aus dem von Böhner ebenfalls oft besuchten Vaterhause eine warme Pietät für den wandernden Spielmann geblieben ist, zuerst für die Oeffentlichkeit benutze. Herr Keil ist nämlich von Böhner, den er im vaterländischen Gebirge traf, ersucht worden, in der Gartenlaube den „albernen Gerüchten, die über sein Leben und Thun im Umlauf seien“, zu widersprechen.[1]


  1. Nicht im Gebirge, sondern in Arnstadt war es, wo ich im Laufe des letzten Sommers Böhner antraf. Dreißig Jahre waren verflossen, daß ich ihn nicht gesehen, und doch erkannte ich den freundlichen Greis sofort wieder. Damals – ich meine vor dreißig Jahren – mochte er wohl auf seiner Durchreise durch L., meine Geburtsstadt, erfahren haben, daß mein Vater einen neuen ganz vortrefflichen Flügel gekauft hatte; genug, eines Sonntags in der Abenddämmerung – es war im Hochsommer – trat plötzlich ein fremder Mann in unser Zimmer, wo die ganze Familie versammelt war, und bat freundlich, das Instrument proben zu dürfen. Mein Vater mußte den Fremden wohl kennen, denn dieser hatte seine Bitte noch nicht ganz ausgesprochen, als er erfreut seine Hand nahm und ihn selbst zum Flügel führte, auf dessen Sitz sich der Angekommene sofort niederließ. Ich erinnere mich der Scene noch, als ob sie gestern erlebt wäre. Der Vater winkte uns still vom Instrument weg, das wir neugierig umstanden, und alsbald klangen die Töne des Spielenden durch das Zimmer. Wie horchten wir hoch auf! So viele vortreffliche Musiker auch in unserm Hause verkehrten – dieser Zauber von Musik war uns neu. Ein wunderbar süßes Gemisch von weichen, innigen und doch zugleich auch neckischen und jauchzenden Melodien, wie wir so verlockend und rührend noch nie gehört, umrauschte uns und versetzte uns mit jeder Minute in eine heiligere Stimmung. Andächtig wie in der Kirche lauschten wir dieser neuen Religion der Töne. Der Künstler sah und hörte nichts als sein Spiel und blickte nur dann und wann träumend nach Oben. Mein guter Vater war wie verklärt. Das wunderbare Spiel mochte hinaus auf die Straße gedrungen sein, bald füllte sich das Zimmer mit Nachbarn und Freunden, und als dieses nicht mehr zureichte, auch die Hausflur, und als auch diese gefüllt war, der Platz an den Fenstern auf der Straße, die bald bis auf die Mitte gefüllt war. Alles horchte still und mit gehaltnem Athem, und nur dann und wann hörte man’s flüstern: der Böhner ist’s – Louis Böhner! So mochte er eine halbe Stunde gespielt haben, als er sich umsah und die Versammlung erblickte. Ich sah, wie sich die Stirnfalte rollte, mit einem schrillen Accord schloß er plötzlich seine Phantasien, stand auf, nahm Hut und Stock und indem er meinem Vater noch flüchtig die Hand drückte, drängte er sich schnell und ohne auf dessen Einladung zu hören, durch die gedrängte Menge, die ihm ehrfurchtsvoll Platz machte. Eiligen Schrittes und ohne weiter von der Menge Notiz zu nehmen, wanderte er durch die Straßen zum Thore hinaus, nach seiner vier Stunden entfernten Heimath Gotha zu.
    Seitdem sind dreißig Jahre verflossen, und der arme Böhner wandert noch immer und wird wohl wandern, bis er einst einkehrt in das kleine stille Haus, in dem er für immer ausruhen darf von seines Lebens Mühen. Möge sein Lebensabend ein freundlicher werden! Und deshalb, wenn Ihr auf [15] einem Thüringer Bahnhof oder in einem der Hotels der kleinen Städte den freundlichen Greis noch trefft, wenn er Euch anredet mit dem kleinen Päckchen unterm Arm und den bittenden Worten: „Lieber Herr – ein neues Musikstück von Louis Böhner,“ da wäre es doch recht hübsch, wenn Ihr dem alten Herrn recht viel abkauftet und ihm so die Sorgen der alten Tage etwas abnähmet, die wohl nun bald zu Ende gehen. Er hat so Vielen eine Freude gemacht – vergeltet’s jetzt noch dem wandernden Greis, der Euren Dank wohl verdient.
    E. Keil.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_014.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2017)