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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Psychologische Studien.
Von Dr. Julius Frauenstädt.
Nr. 1. Das Gedächtniß.

Der Zusammenhang und Zusammenhalt unsers geistigen Lebens ist durch das Gedächtniß bedingt. Denn da wir stets nur in der Gegenwart leben, nur der gegenwärtige Augenblick unser ist: so würde uns die Vergangenheit unsers Daseins ganz verloren gehen, wenn wir sie nicht im Gedächtniß, in der Rückerinnerung aufzubewahren vermöchten. Wir würden gleichsam jeden Augenblick von vorn anfangen zu leben, und somit wäre unser ganzes Leben Nichts, als eine Folge von lauter vereinzelten, zerstückelten Momenten, ohne allen Sinn und Zusammenhang. Ob wir in diesem Falle tausend Jahre oder nur eine Minute lebten, bliebe sich für unser Bewußtsein ganz gleich, denn in jedem folgenden Momente wäre ja der vorhergegangene schon vergessen. Wir müßten uns in jedem Augenblick als ein ganz neues Individuum erscheinen.

Doch nicht blos die Einheit unserer Person käme uns ohne das Gedächtniß nicht zum Bewußtsein, sondern auch die uns umgebenden Gegenstände müßten uns in jedem Augenblick neu und unbekannt erscheinen. Es wäre keine zusammenhängende Arbeit, keine folgerechte Unternehmung möglich ohne das Gedächtniß. Alles Lernen, sei es in der Schule oder aus dem Leben, würde überflüssig oder richtiger unmöglich; denn was wir soeben gelernt, davon würden wir schon im nächsten Augenblick, geschweige denn in der nächsten Stunde, im nächsten Monat, im nächsten Jahre, nichts mehr wissen.

Das Gedächtniß hat zwei Stufen, eine niedere und eine höhere. Die niedere besteht in dem Haftenbleiben der einmal empfangenen Eindrücke oder in dem Behalten derselben. Die höhere Stufe besteht in der Fähigkeit, die haften gebliebenen oder die behaltenen Eindrücke willkürlich wieder in die Erinnerung zurückzurufen. Denn Unzähliges hat unser Gedächtniß behalten, das wir uns doch nicht in jedem Augenblick zum Bewußtsein bringen; Unzähliges wissen wir, ohne davon zu wissen, daß wir es wissen. Wir müssen uns oft erst mühsam auf ein Wort, auf einen Namen, auf eine Person erinnern, die in unserm Gedächtniß schlummert – ein Beweis, daß das Behalten im Gedächtniß und das Zurückrufen in dasselbe zwei verschiedene Thätigkeiten sind, wovon die erstere bestehen kann ohne die letztere.

Die niedere Stufe des Gedächtnisses, das bloße Behalten einmal empfangener Eindrücke, finden wir auch schon in der Natur, und zwar nicht blos bei organischen, sondern auch bei unorganischen, leb- und bewußtlosen Wesen. Jessen bemerkt in seiner Psychologie mit Recht, daß das Gedächtniß keine bloße Eigenschaft der Seele, sondern eine allgemeine Eigenschaft der Nerven sei, und in gewissem Sinne können wir sogar leblosen Dingen ein Gedächtniß zuschreiben, insofern gemachte Eindrücke in ihnen haften und Spuren zurücklassen. Bei luftförmigen oder flüssigen Körpern ist dies nicht der Fall, wohl aber bei allen festen Körpern mehr oder weniger. Es beruht darauf z. B. das Einspielen von musikalischen Instrumenten, und die größere Reinheit und Leichtigkeit, womit alle Töne auf gut eingespielten Instrumenten reproducirt werden. Ist eine Flöte falsch eingeblasen, so ist es unmöglich, ganz reine Töne auf derselben hervorzubringen; ist ein bestimmter Ton immer auf eine ungewöhnliche Weise gegriffen worden, so kann man ihn manchmal nachher nur auf diese, nicht auf die sonst gewöhnliche Weise erzeugen. Die Atome des Holzes bringen die gewohnten Schwingungen wieder hervor. Was aber das Holz vermag, das vermögen natürlich die Nerven in einem viel höheren Grade. Von jedem Eindruck bleibt in den Nerven eine Spur zurück, und je öfter und stärker dieselben Eindrücke wiederkehren, desto leichter und tiefer prägen sie sich ein, da jeder nachfolgende in den vorangegangenen gleichsam schon gebahnte Wege vorfindet.

Auf dieser Eigenschaft der Nerven beruht die Macht der Gewohnheit, beruht das Erlangen von Fertigkeiten durch wiederholte Uebung. Alle Bewegungen geschehen mit desto größerer Leichtigkeit, Sicherheit und Gewandtheit, je öfter sie wiederholt werden. Auf diesem Gedächtniß der Nerven beruht die oft erstaunliche Fertigkeit von Künstlern und Virtuosen in Hervorbringung ihrer Kunststücke, sei es auf dem Seil, oder auf dem Pferde, oder auf der Violine und dem Clavier etc.

Außer der Wiederholung ist es besonders auch die Stärke der empfangenen Eindrücke, wodurch das Haftenbleiben derselben bedingt ist. Da nun aber die Stärke eines Eindrucks zum Theil abhängt von dem Grade der Aufmerksamkeit, den man auf denselben richtet, und dieser wiederum bedingt ist durch den Grad des Antheils und Interesses, den man an demselben nimmt, so leuchtet ein, wie großen Einfluß auf das Behalten empfangener Eindrücke der Antheil und das Interesse daran hat. Je mehr man sich für einen Gegenstand interessirt, desto geschwinder und leichter behält man ihn, desto tiefer prägt man ihn sich in das Gedächtniß ein.

Hieraus läßt es sich erklären, warum wir für alle persönlichen, unser eigenes Wohl und Wehe betreffenden Angelegenheiten ein so vortreffliches Gedächtniß haben. Wer oder was uns auf unserm Lebenswege gefördert oder gehemmt, wer uns freundlich oder feindlich begegnet, welche Wendungen unsers Geschickes günstig oder ungünstig waren, das vergessen wir nicht leicht.

Aus diesem Einfluß des Interesses auf das Gedächtniß erklärt es sich auch, warum wir oft entfernter liegende Ereignisse unsers Lebens besser behalten und leichter in die Erinnerung zurückrufen, als näher liegende. Es geschieht dies, weil jene uns lebhafter interessirten, als diese.

Aus der Abhängigkeit des Gedächtnisses vom Interesse erklärt es sich ferner, warum der Eine für diese, der Andere für jene Dinge ein gutes Gedächtniß hat. Was der Eine leicht behält und in die Erinnerung zurückruft, macht dem Andern oft entsetzliche Mühe zu behalten und rückzuerinnern. Frauen haben für ganz andere Dinge ein gutes Gedächtniß als Männer; Gelehrte für andere als Soldaten oder Gewerbtreibende etc. Denn allemal, wofür sich Einer vermöge seines Geistes und Charakters besonders interessirt, wofür er ein entschiedenes Talent oder einen entschiedenen Trieb hat, das behält und reproducirt er am leichtesten und sichersten im Gedächtniß. Es hat Feldherrn gegeben, die sich die Namen aller Soldaten einer zahlreichen Armee, Gelehrte, die sich die Titel aller Bücher einer zahlreichen Bibliothek merkten. Themistokles wußte die Namen aller seiner Mitbürger auswendig. In neuester Zeit soll der berühmte englische Geschichtschreiber Macaulay ein erstaunliches Gedächtniß für geschichtliche Namen, z. B. für die Reihenfolge der Päpste, gehabt haben.

Im Greisenalter nimmt zwar das Gedächtniß ab; doch bleibt auch bei Greisen das Gedächtniß für solche Dinge, die sie interessiren, noch immer ungeschwächt. Ich habe nie gehört, sagt Cicero (in seiner Schrift über das Greisenalter, Capitel 7), daß ein Greis den Ort vergessen hätte, an dem er einen Schatz vergraben. Die Greise denken immer an Das, was ihrer Sorge obliegt, an den Termin, wo sie als Bürgen sich vor Gericht zu stellen haben, an ihre Schuldner und Gläubiger.

Könnten Traumerlebnisse uns so interessiren, wie die Erlebnisse des wachen Lebens, dann würden wir sie ebenso leicht behalten, wie diese. Diejenigen Träume, die vorbedeutend für unser Leben waren und in Erfüllung gingen, vergessen wir nicht leicht.

Wenn Wahnsinnige ihre Vergangenheit vergessen und sich in ihrer fixen Idee für einen ganz Andern ansehen, als der sie wirklich sind, für einen König oder Kaiser, für den Heiland, für Gott: so rührt auch dieses Vergessen ihrer Persönlichkeit daher, daß sie in ihrem leidenschaftlichen Stolz, in ihrem maßlosen Ehrgeiz und Hochmuth ihre geringfügige Persönlichkeit ihrem Interesse so sehr zuwiderfanden, daß sie sich in eine höhere hineinlogen. Ihr überspanntes Interesse brachte sie um das Gedächtniß für ihre Vergangenheit.

Auch bei Thieren ist das Interesse von großem Einfluß auf ihr Gedächtniß. Die Biene findet die alten Sammelplätze, den Baum und die Blume, wo sie Honig fand, wieder; unter den vielen Stöcken erkennt sie den ihrigen wieder. Schwalben und Störche nehmen, wenn sie im Frühling wiederkehren, Besitz von ihren alten Nestern. Vögel, die man im Winter füttert, stellen sich beim Eintritt der rauhen Jahreszeit wieder ein. Finken, die man den Sommer über vor dem Fenster eines Hauses gefüttert hatte, kamen alle Jahre wieder. Tauben, Katzen, Hunde und Pferde kehren oft aus großen Entfernungen zu ihrem Aufenthaltsorte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_218.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)