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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Der Assessor war todtenbleich; er zitterte, und kalter Schweiß stand in großen Tropfen an seiner Stirn. „Es ist entsetzlich!“ murmelte er vor sich hin. „Dieses Jammerbild und die Engelsgestalt meiner Therese!“ Endlich ermannte er sich, trat ihr einen Schritt näher und rief in einem Tone, der allen Anwesenden in die Seele drang: „Therese! Mein theures, geliebtes Weib – erhebe Dich! Komm’ zu mir, Therese, kennst Du mich nicht mehr?“

Die Wahnsinnige hob beim ersten Laut den Kopf ein wenig nach der Seite empor, blickte aber nicht auf; im nächsten Augenblicke sank sie wieder zusammen und fuhr in ihrer Arbeit fort.

Rudolph ertrug den Anblick nicht länger; er schwankte hinaus, während Weindler mit dem Arzte des Hauses in der Zelle zurück blieb, die genauere Untersuchung der Kranken vorzunehmen und sich die Geschichte ihrer bisherigen Behandlung erzählen zu lassen.

Der Abend brach ein, als die Freunde zur Stadt zurück kehrten. Rudolph war sehr angegriffen und vermied es sichtlich, Weindler um seine Meinung zu fragen, er wollte halb unwillkürlich die Entscheidung so lange wie möglich verzögern. Weindler war der entgegengesetzten Ansicht; rasch sollte geschehen, was doch unvermeidlich war.

„Das Geschäft, wegen dessen Du mich berufen hast,“ sagte er, „ist zu Ende. Meine Kranken rufen mich wieder nach Hause; ich werde keinen Augenblick länger, als unumgänglich nöthig ist, fortbleiben und will morgen mit dem Frühesten abreisen. Laß’ uns daher Deine Angelegenheit noch heut’ in’s Reine bringen. – Du willst mein Urtheil über den Zustand Deiner Gattin hören und würdest mich nicht gefragt haben, wenn Du nicht gerade von mir offene, rückhaltlose Wahrheit zu hören hofftest – die sollst Du denn auch erfahren …“

Eine leidenschaftliche Bewegung Rudolphs hieß ihn inne halten; dann begann er wieder: „Ich habe Deine Frau genau untersucht und beobachtet, habe die trefflich geführten Tagebücher des Arztes geprüft und muß Dir sagen, daß ich hiernach den Zustand Deiner Frau als einen solchen erkläre, zu dessen Heilung Menschenkunst nicht ausreicht. Sie ist, was wir Aerzte sagen – unheilbar!“

Rudolph sank im höchsten Grade erschüttert in den Wagen zurück. „Also nie wieder!“ rief er schmerzlich. „Dieses schöne Leben unwiderruflich dahin, dieser herrliche Geist unerbittlich zerstört! O wie öde liegt nun mein Dasein vor wir – die letzte Hoffnung ist mir genommen!“

Eine kleine Pause trat ein, dann begann der Arzt auf’s Neue: „Sie ist unheilbar – das ist gewiß, und wenn Du die Aerzte der halben Welt zusammen riefest, ihr Urtheil wird das nämliche sein. Die Wissenschaft kann irren, wo es gilt, einzugreifen und die Natur zu bestimmen; aber ihr Ausspruch ist unerschütterlich, wo es sich nur darum handelt, eine Zerstörung festzustellen, welche die Natur selbst begangen hat. – Aber fasse Dich, ertrage das Unvermeidliche als ein Mann! Auch leuchtet mir nicht ein, warum mit diesem Verluste aus der Vergangenheit auch die ganze Zukunft verloren sein soll. Nimm Dich zusammen und betrachte die Verhältnisse ohne alle Sentimentalität und wie sie nun einmal sind. Du bist es Dir selbst und Deiner Tochter schuldig, Dich aus dieser Versunkenheit aufzuraffen. Denke lieber daran, wie Du Deine Verhältnisse ordnen und Dir das neue Glück gründen kannst, dessen Ihr Beide bedürft!“

„Ein neues Glück!“ seufzte Rudolph. „Es ist nicht möglich!“

„Ob es möglich ist, weiß ich nicht,“ rief Weindler, „aber zu versuchen ist es wenigstens. Als Rechtskundiger weißt Du selbst, daß der unheilbare Wahnsinn Deiner Frau Dir das Mittel an die Hand gibt, Dich von ihr zu trennen und ein neues Bündniß einzugehen, das Dich, wenn nicht eben so beglücken, so doch vergessen lassen kann, was Du verlorst.“

„Nein!“ entgegnete rasch der Assessor. „Soll ich mich von ihr lossagen, sie in ihrem entsetzlichen Zustand sich selbst überlassen?“

„Das sag’ ich nicht!“ antwortete der Arzt. „Sorge für sie, wie man für einen Menschen in diesem Zustande sorgen kann; sorge für sie, wie für eine Person, die Dir das Theuerste auf der Welt war, aber sorge dann auch für Dich! Wie kannst Du sagen, das hieße Dich von ihr lossagen? Ist sie nicht bereits von Dir durch eine Kluft geschieden, tiefer und unausfüllbarer als jede andere? Du hast keine Gattin, Deine Tochter keine Mutter an ihr; sie ist nichts mehr als ein vegetirender Körper, der kein Recht hat, Dich in Deinen Lebensentschlüssen zu hemmen, kein Recht, zu verlangen, daß Du um seinetwillen allen Ansprüchen an das Dasein entsagst. Ueberlege Dir die Sache, fasse sie fest in’s Auge: alle Dinge gewinnen ein anderes Ansehen, wenn man sie an sich heran rückt und genau und lange betrachtet. Ich gebe zu, daß der Gedanke Dich im ersten Augenblick verletzt, allein Du wirst finden, daß es im Grunde doch nur falsche Empfindsamkeit ist, wenn Du Dein volles berechtigtes Leben für immer an ein halb erstorbenes knüpfen willst.“

Der Wagen hielt vor dem Hause; Rudolph erwiderte nichts, und mit einem herzlichen Händedruck gingen Beide schweigend in ihre Zimmer. Am andern Morgen nach kurzem, herzlichem Abschiede der Freunde rollte der Wagen mit dem Arzte davon. Das Abends zwischen ihnen Besprochene war nicht mehr berührt worden.




3.

Tage und Wochen gingen in gewohnter stiller Weise vorüber; nur daß Rudolph noch zurückgezogener, noch einsylbiger geworden war, als früher. Er blieb, wenn er zu Hause war, fast immer abgeschlossen in seinem Arbeitszimmer, in welches Niemand ungerufen kam, als Anna. Diese zog er denn auch in jeder Weise an sich, und suchte sie und sich allmählich von der bisherigen Art des häuslichen Lebens und insbesondere von dem Umgange mit Amalien zu entwöhnen. Es war am klügsten, wenn sie dieselbe nach und nach entbehren lernte, denn Rudolphs Entschluß stand fest. Er wollte dem Wunsche Amaliens, das Haus zu verlassen, kein Hinderniß entgegen setzen, und hatte schon seinen Plan gemacht, wie es nach ihrer Entfernung werden sollte. Er hoffte, mit einer zuverlässigen alten Dienstmagd, die ihm empfohlen worden, die Besorgung des Haushaltes selbst überwachen zu können; für sich selbst bedurfte er ja so wenig, und was Anna an dem bildenden und belehrenden Umgange der Erzieherin verlor, das sollte ihr seine ausschließende Liebe, seine verdoppelte Zärtlichkeit ersetzen.

Wohl waren die Mahnungen des Freundes in seinem Gemüthe nicht wirkungslos verhallt; unter der Frische des ersten Eindrucks erschien seine Darstellung als klar unwiderleglich. So sehr sein Gefühl sich dagegen sträubte, er mußte sich selbst gestehen, daß seine eigenen Gedanken schon hier und da denselben Weg eingeschlagen hatten, daß der Ausweg ein vor Recht und Gesetz tadelloser war – dennoch reichten nach Weindlers Abreise wenige Stunden des Alleinseins hin, ihn wieder umzustimmen und ihm das, was sein Verstand billigen mußte, als herzlose Härte erscheinen zu lassen. Erweicht blieb er vor dem Piano stehen, dem Therese so süße Töne zu entlocken gewußt hatte und das seit ihrer Entfernung stumm und verschlossen dastand – er langte von der Wand oberhalb seines Schreibtisches ein von Theresen gesticktes Uhrkissen herab, das aus ihren Haaren gebildet seinen Namenszug trug. – Beim Anblick der holden Liebespfänder gelobte er sich aufs Neue, das Unvermeidliche mit Fassung zu ertragen. Er verzichtete auf jedes weitere Lebensglück, als das, welches in Anna’s Entwicklung ihm entgegenblühte.

Diese fühlte die eingetretene Veränderung sehr schwer; sie hing an Amalien wie an einer Mutter und wollte durchaus den ständigen Umgang mit ihr sich nicht schmälern lassen. Sie liebte ihren Vater, aber sie liebte Amalien ebenso sehr, und wenn dessen Ernst trotz aller Güte und Herzlichkeit sie ferne hielt und einschüchterte, flog der mütterlichen Freundin alle Lust und Freude des Kinderherzens entgegen. Es gab Auftritte, denen alle Vorsicht Rudolphs den darin liegenden Stachel nicht zu nehmen vermochte, und wenn die Verhältnisse sich gleichwohl ruhig und anständig abwickelten, war es nur Amaliens Werk. Ohne die mindeste Gereiztheit oder Bitterkeit zu verrathen, verständig und besonnen und doch geschmeidig wie immer, wußte sie die schärfsten Kanten zu brechen oder zu umgehen und ging mit weiblicher Feinheit auf Rudolphs unausgesprochenen Plan beistimmend und fördernd ein, während sie andererseits wieder ihr ganzes Benehmen so einzurichten wußte, als geschähe all’ dieses absichtslos, und als habe sie keine Ahnung von dem, was man vorhabe.

Rndolph bemerkte und empfand dies mit lebhaftem Dank, und doch wieder mit Unbehagen, es machte Amalien nur um so mehr in seiner Achtung steigen und erhöhte seine Verbindlichkeiten gegen sie, deren er doch am liebsten sich entledigt hätte. Er nahm sich daher vor, bei Amaliens Abschied die Sache zur Sprache zu bringen.

Als er eines Abends vom Gerichte nach Hause kam, wo ihm

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_226.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)