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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

der Nähe der Stadt liegt das Dorf Lichtenhain[1], welches sich, wenn auch keineswegs durch die Güte seines Bieres, so doch durch die löbliche Eigenschaft desselben auszeichnet, daß man eine ungeheure Quntität davon zu sich nehmen kann. Nach diesem Dorfe nun wallten die durstgequälten Jenenser und stifteten in altersgrauer Zeit einen eigenen Staat, d. h. sie wählten aus ihrer Mitte einen Herzog, Minister, Räthe, Forst- und Jagdbeamten etc. Auch errichteten sie einen Verdienstorden, Kannenorden genannt, für besondere Bierverdienste, und Alles, was noch sonst zu einer wohlconditionirten Regierung nöthig ist. Dabei entwickelte sich oft ein sehr glänzender Witz.

Dort fand man den wahren locus
Für den akademischen jocus.[2]

Nach dem Muster Polens war der Staat ein Wahlreich, Jeder Ebenbürtige, d. h. jeder regelmäßige Besucher Lichtenhains, hatte die active und passive Wahlbefähigung. Ein polnischer Reichstag war indessen in Lichtenhain nicht zu fürchten. Denn um allen Wahl-Intriguen vorzubeugen und nur dem wahren Verdienst die Krone zu geben, wurde an jedem Kneiptag regelmäßig zu Buche gebracht, wie viel ein Jeder zu sich genommen. Nach Ablauf des Jahres wurde das Facit gemacht, und wer dann in einem Jahre am meisten getrunken, wurde als der Fähigste, als der Förderste, als der Fürst begrüßt. Der beste Biertrinker nach dem Fürsten war der Kronprinz, dann kamen die Minister, der Erzbischof, der Kanzler, Reichsherold etc. bis auf den Hofpoeten und Hofzeitungsschreiber herab, alles secundum ordinem nach der verhältnißmäßigen, recht eigentlichen Capacität. Die Burgvögte, von der profanen Welt Wirthe genannt, thaten alles Mögliche, um nicht nur die Burg selbst, sondern auch die umliegenden Burggärten möglichst zu verschönern und namentlich die Hof- und Gallatage und Abende durch Decorationen und Illuminationen recht glänzend zu machen.

Der Mai des Jahres 1816 zeigte sich besonders günstig für solche Hof- und Gallatage. Die Frühlingssonne lockte öfters als gewöhnlich zum Besuche der Hofburg. Auf dem Throne Fichtenhains saß damals Tus IX., ein stattlicher, prachtliebender Herr.[3] Eines schönen Nachmittags entbot er seinen Reichsherold G. zu sich und sprach zu ihm die geflügelten Worte: „Bester, lieber und Vielgetreuer! Schreibe unter Berücksichtigung der Dir wohlbekannten Umstände auf nächsten Sonnabend Nachmittags 3 Uhr einen großen Hof- und Reichstag nach Lichtenhain auf und lade dazu alle unsere lieben Vasallen und getreuen Unterthanen feierlich ein.“ Der Reichsherold schrieb sogleich das übliche Manifest auf einen Bogen in Groß-Folio und befestigte es an das schwarze Bret, wo es wegen seiner Größe bald die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. Am Abend vor dem festlichen Banket beschloß Goethe eine Spazierfahrt nach Kötschau zu machen, wo er zehn Jahre später dem allgefeierten wunderschönen Gastwirths-Töchterlein, der schönen Minna, den Namen der thüring’schen Helena gab. Als er über das Kreuz fuhr, zog der riesenhafte Anschlag am schwarzen Bret seine Blicke auf sich. Wißbegierig wie er war, schickte er seinen Kammerdiener ab, um zu erkunden, was der Anschlag bedeute. Dieser kam mit der Meldung zurück, er verstehe das Ding nicht, es scheine ein Studentenwitz zu sein. „Gehe hin und hole mir das Papier,“ befahl Se. Excellenz. Der Diener brachte die Proclamation, und Goethe las wie folgt:

Wir Tus IX., aus eignen Mitteln und Verdienst regierender Herzog zu Lichtenhain, Fürst zu Ziegenhain, Erbherr auf Kunitz, gefürsteter Graf von Ober- und Unter-Wöllntz, Kötschau und Ammerbach, Erb- und Bierherr auf Köstritz und Oberweimar, sowie Alleinherrscher aller Länder, die wir besitzen und nicht besitzen, die wir kennen und nicht kennen, allezeit Mehrer des Reichs, sowie Minderer des Biers und darum Großmeister aller Bierorden auf Sonne, Mond und Sternen, insonderheit des großen goldnen Kannenordens, der herzoglichen Societät der höheren Cerevisiologie Protector etc. etc.

haben erfahren, daß in unsern Landen viele Klagen über großen Durst laut geworden sind, was mit Wohlgefallen zu vernehmen allergnädigst geruhten. Maßen wir aber stets, immerdar und allezeit mit landesväterlicher Fürsorge darauf bedacht sind, die vorhandnen Kräfte unsrer vielgetreuen Unterthanen nicht nur zu benutzen, sondern auch fernerweit auszubilden, Nothleidende zu unterstützen und Durstigen zu Hülfe zu kommen, maßen ferner wir auch in unserer durchlauchtigsten Kehle selbst einige Trockenheit verspüren, haben wir mit unsern weisen Räthen unter Beirath und mit Zustimmung unsrer getreuen Landesstände beschlossen und verordnet, beschließen und verordnen wie folgt:

Es haben sich sämmtliche unsrer getreuen Unterthanen, mit allen unsern Hofrittern und Mannen in unsrer hohen Beste und Residenz zu Lichtenhain am Tag der Publication dieses Manifestes Nachmittags 3 Uhr zu einem Hof- und Reichstag zu versammeln, um auf demselben nach Kräften zum Wohl des Landes beizutragen, auch einem rittermäßigen Turnier und Lanzenstechen beizuwohnen.

Gegeben auf unsrer Hofburg und Residenz zu Lichtenhain, am 17. des Wonnemonds 1818.

Eigenhändig und mit unserem Handsiegel:

Tus IX.

Gegengezeichnet G…, Reichsherold.

Die alte Excellenz wollte sich ausschütten vor Lachen und steckte das Manifest ad saccum, um es gelegentlich seinem fürstlichen Gönner, den solches humoristisches Treiben der studirenden Jugend höchlich ergötzte,[4] zur besondern Kurzweil vorzulegen. In derselben Stunde, da dieses sacrilegium geschah, eilten die treuen Vasallen und Unterthanen Tus IX. der herzoglichen Hofburg in Lichtenhain zu. Bald thronte im niedrigen Zimmer der unansehnlichen Schenke auf einem alten Großvaterstuhl der ziemlich korpulente regierende Herzog in altdeutscher Tracht mit großem Bart, die breite Brust mit funkelnden Bierorden bedeckt, und um ihn an der halbzerbrochenen Tafel, in welcher unzählige Namen eingeschnitten waren, die Großen der Krone und Kleinen des Reichs bis herab zum Scharfrichter, Bluthund von Galgenbach. Der Reichsherold G. gab ein Zeichen mit der Stabstrompete, einem alten Clarinettenstück. Tiefe Stille trat ein, und der Herold verkündete fast in derselben Minute den Inhalt des Manifestes, während

  1. Es ist kin kleines, jetzt zum Herzogthum Sachsen-Meiningen gehörendes Dorf von kaum 50 Häusern, bringt aber der Staatscasse nicht weniger als 4000 Gulden Biersteuer ein.
  2. Auch das hatten die Bierstaaten mit den Weltstaaten gemein, daß in denselben Unzufriedenheit der Staatsbürger sich entwickelte und in Folge davon größere und kleinere Revolten einstanden, die, wenn sie nicht energisch unterdrückt wurden, mit dem Sturz des Souverains endeten, während dagegen ein kraftvolles Auftreten desselben diese Katastrophe abwendete. So sah man es im Jahr 1828 in Wöllnitz. Der Reichskanzler K… hatte die getreuen Vasallen und Unterthanen Popp X. aufgewiegelt und hätte sie fast zu ungetreuen gemacht. Da trat aber der gefürstete Graf Popp X. würdevoll auf und rief mit dem Schwerte auf die Tafel schlagend mit seiner Löwenstimme: „Ich bin Euer Soffgraf!“ Das schlug durch, die die Revolte ward unterdrückt und die Reaction siegte.
  3. Seit Menschengedenken führten die Herrscher Lichtenhains den Namen „Tus“. Wenn die Zahl 100 in der Reihe voll war, fing man von vorne an zu zählen.
  4. Wie Karl August in freundlicher Laune selbst auf einen Scherz einging, davon erzählt Plinius der Jüngste in seiner Naturgeschichte des deutschen Studenten mit Federzeichnungen von Johann Gottfried Apelles folgenden interessanten Zug. Ein glorreicher Nachfolger des oben unterzeichneten Tus IX., der XXXVII. dieses Namens, jagte eines Tags in dem über Lichtenhain gelegenen grossherzogl. weimarischen Forst. Ein Kreiser traf ihm und wollte ihm wegen Wilddieberei die Büchse wegnehmen. Ganz entrüstet fuhr der Souverain von Lichtenhain den Forstbedienten mit den Worten an: „Wie kann Er sich unterstehn? Weiß Er, wer ich bin? Ich bin der Herzog von Lichtenhain.“ Erschrocken ließ der Jägersmann von seinem Vorhaben ab, meldete aber den Vorfall seinem Vorgesetzten. Die Sache kam bis zum Großherzog, und dieser schickte seinen Leibhusaren mit folgendem Auftrag an den Bierfürsten: „Eine Empfehlung von Se. K. H. dem Großherzog an Se. Liebden, den Herzog XXXVII. von Lichtenhain: K. Hoheit und Sereinssimus hätten beschlossen, künftighin nur in ihren Revieren zu pürschen und ließen bitten, daß Ihre Hoheit von Lichtenhain, wenn sie wieder zu jagen geruhten, ebenfalls sich auf das Höchstihnen eigenthümliche Jagdgebiet beschränkten.“
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 716. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_716.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)