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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

addiren, die anfänglich vielleicht kaum sichtbaren Ausweichungen werden sich mit jedem neuen Stoße vergrößern, und endlich werden wir eine Kraftleistung vor uns haben, als ob wir die Gesammtsumme aller jener geringen Kraftäußerungen auf einmal hätten auf den schwebenden Körper wirken lassen.

Die Erfurter Glocke kann ein einziger Mensch zum Anschlagen bringen, aber es dauert vielleicht eine Stunde und länger, ehe sie die nöthige Schwingung erhält. Indem nun die Hand den Faden des Ringes hält, erschlafft sie allmählich, und durch das Zittern derselben, sowie durch die regelmäßig wiederkehrenden Pulsschläge, wird der Aufhängungspunkt fortwährend verrückt, was, wie wir gesehen haben, ebenso wirkt, als ob auf den Ring selbst entsprechende kleine Stöße erfolgt wären. Die Wirkung wird sein, daß der Ring, wie die immer größere Bogen beschreibende Glocke immer weitere Schwingungen macht, endlich an die Wände des Glases antrifft und diese zum Klingen bringt.

Aber wir merken ja nichts vom Zittern? Weil unsere Aufmerksamkeit auf den Ring gerichtet ist, und weil auch die Vibration nur eine geringe ist, die erst in ihrer Gesammtwirkung sichtbar wird. Ehe diese eintritt, vergeht daher auch eine gewisse Zeit, die um so größer sein wird, je ruhiger das Temperament des Haltenden ist, je mehr derselbe seine Sinne beisammen, seine Nerven und Muskeln in der Gewalt hat. Nervöse, aufgeregte, unklare, krankhafte Naturen kommen viel eher zum Ziel, das sind die echten Medien, durch die der Geist des Ringes spricht, die besten Sensitiven. Man soll den Versuch machen, und man wird Jeden, der das Biertralla in den Fingern hat, noch viel sensitiver als selbst das sensitivste Frauenzimmer finden.

Damit, daß sich als die Ursache der Bewegung des Ringes eine ganz gewöhnliche Muskelvibration herausgestellt hat, ist aber erst die eine Hälfte des Phänomens erklärt. Die andere, obwohl sie scheinbar die geheimnißvollste ist, ist viel einfacherer Natur. Die Anzahl der Schläge an das Glas nämlich, durch die uns das dämonische Orakel kundgegeben wird, hängt lediglich von dem Willen desjenigen ab, der den Faden hält. Weiß dieser die zu gebende Antwort, wie es ja bei den gewöhnlichen Fragen nach Alter, Zeit etc. meist der Fall ist, oder hat er ein dunkles Gefühl davon, indem er etwas darauf Bezügliches noch nicht ganz vergessen hat, so wird er dem Ringe erlauben, so viel Schläge zu thun, als nöthig sind. Ist der letzle geschehen, so wird unwillkürlich der Muskel gespannt, daß die so leicht zu bestimmende Bewegung aufgehoben wird. Freilich will er das nicht thun, er thut es eben unwillkürlich. Denn hat man von der Antwort gar keine Idee und kennt man auch die Grenzen nicht, innerhalb welcher sie etwa liegen könnte, so kommt allemal Unsinn zu Tage, falls nicht etwa, was unter den tausend und abertausend Fällen, in denen diese Narrethei getrieben worden ist, wohl einmal möglich wäre, zufällig das Richtige gerathen worden ist, wie so Vieles gerathen wird. Aber selbst in diesem Falle hat nicht der Ring, sondern der wißbegierige Freund den glücklichen Griff gethan.

Ein schlagender Beweis, daß dieser Theil der Erscheinung lediglich durch den unbewußt wirkenden Willen bestimmt wird, liegt in Folgendem. Das Pendel, es mag aus einem ain Haar der Geliebten aufgehangenen Ringe oder aus einem bleiernen Knopfe an einem Zwirnsfaden bestehen, schwingt über Gold oder Silber, Kupfer oder Guano, gleichviel über allen in derselben Weise, vorausgesetzt nämlich, daß derjenige, welcher es hält, unbefangen und noch nicht in seine lieferen Geheimnisse eingeweiht ist. Hat er aber erfahren, daß es über einem Ducaten in einer von rechts nach links geneigten Ellipse, über einem Kreuzer in einer Kreislinie schwingen muß, so geht von Stund an das Pendel, ohne nur ein einziges Mal zu irren, in diesen Bahnen, während es bei einem Anderen, dem man daö Umgekehrte gesagt hat, auch folgerichtig umgekehrt schwingt.




Blätter und Blüthen.


Londoner Industrieen (Zur Warnung). „Capitalien zu placiren!“ Unter dieser Aufschrift begegnet man sehr häufig in den gelesensten Zeitungen verschiedenen Annoncen, welche jedem Geldbedürftigen den schätzbaren Antrag machen, ihm beliebige Summen gegen niedrige Zinsen und geringe Sicherheit ohne alle Weiterungen vorzuschießen. Gewöhnlich sind es hübsche runde Beträge, etwa von 100,000 Pfund oder 700,000 Thaler preuß. Cour., womit die armen britischen Capitalisten weiter nichts anzufangen wissen, als sie auf dem Continent, insbesondere in unserm lieben, vertrauenden Deutschland, unterzubringen. Die Biedermänner geben sich dabei ganz das Ansehen, als wollten sie den Bettel so geschwind als möglich los sein; man wende sich nur an die bezeichnete Adresse, London, Tottenham Road oder Chelsea, und umgehend rückt die Silberflotte oder der gewichtige Papiernautilus ein. Geldbedürftige gibt es überall, also auch in Deutschland; aber so blindlings zugreifende arglose Leute, wie hier, gibt es leider nicht überall. Viele haben sich an die verführerischen Londoner Adressen gewendet, insbesondere Geschäftsleute aus Ostpreußen, Westphalen, Hamburg und Sachsen. Aus allen diesen Gegenden liegen constatirte Nachrichten über den Ausgang derartiger Geschäfte vor. Auch der Schreiber dieser Zellen hat sich, freilich nur des Versuchs halber und zu seinem speciellen Zweck der Veröffentlichung – an ein solches Londoner Haus gewendet, nämlich an die Herren Roberts, Barclay & Comp., welche „Kaufleuten, Fabrikanten und Gewerbtreibenden aller Art 100,000 Pfund Sterling und darüber gegen mäßigen Zinsfuß zur Verfügung stellten“, falls dieselben nur „gute Referenzen“ beibringen könnten. Daran fehlte es nun meinem portofreien Antrag durchaus nicht; aber das ehrenwerthe Londoner Haus mußte doch Lunte gerochen oder sich erkundet haben, denn es gab mir auf meinen Vertrauensbrief nicht einmal Antwort. Ich kann daher nur erzählen, wie es Andern gegangen ist, aber aus ganz authentischen Quellen. Der Verlauf ist stets, mit nur geringen Modificationen, der folgende:

Der Hülfesuchende wendet sich in einem frankirten Schreiben an die zuvorkommende Geldquelle in London, er sendet einen wahrheitsgetreuen – oder auch geschminkten! – Bericht über seine Verhältnisse ein, nennt seine Bürgen und begehrt ein Capital. Umgehend erhält er – unfrankirt – ein verbindliches Antwortschreiben: Das Geld liegt parat, es hat die Verabfolgung desselben gar keinen Anstand – nur wird der verehrte Darlehnsucher doch hoffentlich einsehen, daß man ohne alle Sicherheit doch kein Geld verleihen kann, namentlich ins Ausland; er wird daher freundlich aufgefordert, diejenige Sicherheit namhaft zu machen, die er allenfalls bieten kann, wobei nicht undeutlich zu verstehen gegeben wird, daß man blos der Form wegen so verfahren müsse, ein Auge zudrücken und ungrad’ gerade sein lassen werde. Der Geldbedürftige sieht die Hülfe lockend und nahe vor sich – aber wer sich nach London wendet, der hat gewöhnlich schon in Deutschland verhypothecirt, was möglich war, wenn auch sonst seine Bilanz eine ganz gute und er nur durch die Calamität der Krisis in ernstliche Verlegenheit gerathen sein mag, die den Fortbestand seines Geschäftes bedroht. Mit heißem Kopf durchläuft er nunmehr alle Möglichkeiten der Beschaffung einer Sicherstellung; allein es fällt ihm nichts ein, als – ein Accept. Dies ist der gewöhnliche Weg. Schlägt aber der Mann einen andern ein, bietet er Bürgschaft, Nachhypothek, Faustpfand, Policen – so wird ihm kühl höflich entgegnet: Das sei allerdings etwas, aber nicht genug; zu mehrerer Sicherheit sei sein Accept verschiedener Wechsel auf 3, 4, 6 Monate Frist nothwendig. Was soll er thun? Schon zu sehr hat er sich in den Gedanken hineingelebt, mit einem Male aller der drückenden Quälereien los zu werden, die ihm seither das Leben zur Hölle gemacht haben; er sagt sich, daß es ihm ja mit Hülfe des zufließenden Capitals leicht möglich sein werde, zur Verfallzeit Deckung zu beschaffen; er denkt, er bekomme ja den Werth seines Accepts in die Hand und könne daher selbst im schlimmsten Falle nichts verlieren; endlich ist er durch die erhaltenen Zuschriften fast sicher, daß man von seinen Wechseln keinen Gebrauch machen, sondern sie blos als ein Unterpfand betrachten werde – kurz, er acceptirt und sendet die gestempelten Unglückspapiere nach London.

In fieberhafter Spannung erwartet er nunmehr die Rimessen; er späht der Ankunft des Postboten täglich stundenlang entgegen – endlich kommt er, endlich, mit einem dicken Brief aus London, declarirt 1000 Pfund Sterling! Glück auf, Erlösung! Mit zitternden Händen bezahlt der gute Mann das hohe Porto, kaum vermag er zu quittiren, kaum das Couvert zu lösen. Die Seinigen umstehen ihn athemlos; so viel Geld ist lange nicht in’s Haus gekommen, eine neue bessere Zukunft hat sich aufgethan. Aber nur auf einen Augenblick; das Londoner Schreiben enthält nicht Banknoten, sondern Wechsel, ordentlich ausgestellt, scheinbar tadellos, aber doch nur Wechsel. Erste Enttäuschung. „Da werde ich viel daran verlieren müssen!“ brummt der Herr; „indessen auch das wird zu tragen sein; Hauptsache ist jetzt Cassa!’ – Und er wandelt halb vergnügt, halb unruhig zum Banquier, um die Wechsel zu discontiren. Dieser sieht dieselben einen nach dem andern kaltblütig durch und gibt sie dann kopfschüttelnd zurück: „Kann ich nicht gebrauchen; ganz unbekannte Firmen.“ Erbost trägt der Besitzer seine Papiere zum zweiten, zum dritten Banquier – überall dieselbe Antwort; doch nein, der dritte macht ihm den Vorschlag, gegen billige Provision das Incasso zu übernehmen. Der Mann braucht zwar baares Geld, aber was will er machen? er übergibt die Wechsel theilweise zum Incasso, einige verwendet er auch zur Deckung von Schulden. Nun glaubt er sich etwas Luft geschafft zu haben; er benutzt diesen Zustand zur Schreibung eines sehr entrüsteten Briefs an seine Londoner Geschäftsfreunde, worin er dieselben für sämmtliche Spesen verantwortlich macht – erhält aber darauf kein Sterbenswörtchen Antwort. Da sendet eines schönen Morgens der Banquier nach ihm; mit Hast folgt er der Einladung, denn er hofft auf Silber; da empfängt ihn unter der Thüre schon das Donnerwort: „Ihre Wechsel sind falsch! Solche Firmen existiren nicht, oder wenn sie existiren, sind sie zahlungsunfähig!“ – Und so ist es, der arme Getäuschte hat ein ganz werthloses Papier in Händen, und steht wieder auf dem alten Flecke. Doch nein, er ist jetzt weit schlimmer daran, er hat sich selber ruinirt. Die Accepte, welche er

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_783.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)