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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

und von dem Nachrichten eingelaufen waren, daß er ein würdiger Sohn seines Vaters sei.

Das Alles wußte ich aus Mittheilungen Holberg’s, der allerdings in Beziehung auf Einzelnheiten seines früheren Verhältnisses zu Frank immer Zurückhaltung gezeigt hatte. War der Ermordete der Sohn Frank’s? Hatte er hierher, zu Holberg, gewollt? Gar jener gemeine Amerikaner Jones der Mörder, der des Namens und der Papiere seines Opfers sich bemächtigt halte? der alte Verhältnisse, alte Verbindlichkeiten, vielleicht noch mehr geltend machen wollte?

Und wenn das Alles so war, was half es meinem armen Freunde? Mußte ich nicht annehmen, daß es auch bei ihm sich um ein Verbrechen handle? Und war dieses nicht um so mehr bloßgestellt, wenn der Verbrecher sein Verfolger war? War er nicht schon dadurch, wenngleich nur äußerlich, in die Verbrechen jenes Menschen mit hinein verwickelt? Aber es mußte gehandelt werden, schleunig, sofort, und ich mußte als Criminalrichter einschreiten. Ich durfte dabei der Freund bleiben.

Der Polizeidirector hatte Recht gehabt. Zugleich mit dem polizeilichen Vorangehen that ebenso sehr ein gerichtliches Verhandeln Noth. Bestätigte sich der einmal vorhandene Verdacht, so mußte der Verfolgte sofort bei dem ersten Angriffe gerichtlich vernommen werden. Die ersten Fragen an einen zumal überraschten Verbrecher sind nur zu oft entscheidend für die ganze fernere Untersuchung. Der englische Polizeibeamte hatte ein ziemlich genaues Signalement des Verfolgten bei sich; es war nach den Angaben in dem Londoner Bankierhause aufgenommen, bei dem er seine Wechsel realisirt hatte. Es paßte vollständig auf den Mr. Jones. In Verbindung mit den übrigen Momenten war es danach völlig gerechtfertigt, auf der Stelle, noch in der Nacht, bei Mr. Jones einen polizeilichen Besuch zu machen; der Polizeidirector mußte dazu den englischen Beamten zuziehen. Meine, des Criminalrichters, Anwesenheit war eine Garantie mehr für die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens.

So hatte auch der Polizeidirector sich die Sache überlegt und er hatte schon vorher einen seiner Beamten zu der Verfolgung von Jones geschickt, um sich, ohne alles Aufsehen, zu erkundigen, ob dieser zu Hause sei.

Der Beamte brachte in unsere Berathungen die Nachricht, der Gesuchte sei nicht da; er sei am Nachmittage ausgeritten und nicht zurückgekehrt, und man wisse nicht, wo er sei. Ich wußte es wohl, wenigstens wohin er geritten sei, er mußte auch noch dort sein.

Er hatte Holberg einen Besuch auf Holbergen angesagt. Schon früher war er mehrere Male draußen gewesen und hatte dann, wenn es ihm zu spät zur Rückkehr nach der Stadt geworden war, die Nacht in einem Gasthofe logirt, der ungefähr zehn Minuten von dem Gute an der Chaussee lag. Unzweifelhaft war er auch jetzt da. Ich theilte es den beiden Polizeibeamten mit. Es wurde beschlossen, ihn dort aufzusuchen. Seine Ueberraschung mußte um so größer sein, mithin auch, wenn er der Verbrecher war, seine Verwirrung. Seine Wohnung in der Stadt sollte unterdeß unter scharfe polizeiliche Beobachtung gestellt werden.

Wir brachen so schnell wie möglich nach Holbergen auf. Wir fuhren; einige Gensd’armen und Polizeidiener zu Pferde begleiteten uns. Es war eine warme, stille, ziemlich klare Sommernacht. Gegen Mitternacht hatten wir die Stadt verlassen und bald nach ein Uhr in der Nacht erreichten wir den Gasthof bei Holbergen; er lag diesseits des Schlosses, unmittelbar an der Chaussee. Das Haus lag im tiefsten Dunkel vor uns; man gewahrte auch nicht die geringste Bewegung. Unsere Ankunft war nicht vernommen worden.

Der Kutscher mußte vom Bocke steigen und an die Hausthür klopfen, als wenn noch späte Gäste angekommen seien, die Einlaß begehrten. Es war mir unterdeß schwer genug auf dem Herzen. Auf dem ganzen Wege hatte sich eine immer größere, drückendere Angst meiner bemächtigt; meine Gedanken konnten das Schicksal des Menschen, den wir verfolgten, von dem Holberg’s nicht trennen. Und daß der widerwärtige, gemeine Mensch ein Verbrecher war, das wollte mir immer gewisser werden, ich konnte immer weniger daran zweifeln.

Die Thür des Gasthofs wurde geöffnet. Wir traten in das Haus wie verspätete Gäste. Die Gensd’armen und Polizeibeamten hielten sich zurück. Der Wirth erschien und wurde nach dem Herrn Jones gefragt. Er kannte ihn. Der Amerikaner logirte dort, aber er war nicht im Hause. Es war des Abends gegen sechs Uhr angekommen, hatte sich zum Schlosse Holbergen begeben, bei dem schönen Wetter zu Fuße, und war noch nicht zurückgekehrt. Das war auffallend; die Nacht war schon bis um halb zwei Uhr vorgerückt.

Ich fragte den Wirth, ob Herr Jones, wenn er sonst auf Holbergen gewesen, wohl so spät dageblieben sei.

„Niemals,“ war die Antwort.

„Ob heute auf dem Schlosse etwas Besonderes sei, vielleicht ein Fest gefeiert wurde?“

„Auch das nicht soviel er wisse.“

Mir wollte es unheimlicher werden. Da mußte sich etwas ereignet haben. Sollte der Mensch jenen entsetzlichen Handel erzwungen haben? Sollte die Perle der braven Familie –? Ich durfte den Gedanken nicht ausdenken.

„Doch etwas,“ fuhr der Wirth fort, „war heute am Schlosse los. Vorgestern Abend war in dem Dorfe Alsleben hinter Holbergen eine Seiltänzerbande angekommen. Der Herr von Holberg hat sie gestern Abend auf dem Hofe spielen lassen, um seinen Leuten ein Vergnügen zu machen. Meine Leute waren auch hin.“

Es konnte an dem Ausbleiben des Amerikaners nichts ändern.

Ich mußte dennoch unwillkürlich stutzen, als eine Seiltänzerbande erwähnt wurde. Auch der, den wir verfolgten, sollte zu einer solchen Bande gehört haben. Wir überlegten, was weiter zu thun sei. Sollten wir die Rückkehr des Amerikaners abwarten, oder ihn geradezu im Schlosse aufsuchen? Es wurde ein Mittelweg beschlossen. Ich, als Bekannter der Holbergschen Familie, sollte mich allein, nur unter Begleitung eines der Polizeidiener, der bürgerliche Kleidung trug, in das Schloß begeben, dort Erkundigungen einziehen, und je nach dem Befunde zum Wirthshause zurückkehren oder durch den Polizeidiener die anderen Beamten herbeirufen lassen.

Ich machte mich mit dem Diener auf den Weg, in der schönen, ruhigen Nacht ebenfalls zu Fuße. Weg, Schloß und Umgebung waren mir bekannt; ich war oft da gewesen. Wir mußten eine Zeitlang die Chaussee weiter hinaufgehen; dann bog eine gerade Pappelallee links ab und führte in vier bis fünf Minuten zum Schlosse. Das Schloß gehörte zu einem großen Gute, es lag mitten in einem weitläufigen Park; dieser erstreckte sich bis an die Chaussee, und wir hatten ihn in der Pappelallee schon zu beiden Seiten. Jenseits des Schlosses zog er sich bis zu der Feldmark des Dorfes Alsleben hin. Das Dorf lag eine starke Viertelstunde von dem Schlosse entfernt.

Ich erreichte mit meinem Begleiter das Schloß; es war noch hell darin, in mehreren Zimmern brannte Licht. Auch unter dem großen Eingangsportale war es hell. Es standen Leute dort, im Hause an den hell erleuchteten Fenstern glaubte ich Menschen hin und her gehen zu sehen. Und es war schon nahe an zwei Uhr Morgens. In einer Stunde, noch früher, mußte der Tag grauen.

Hier hatte sich etwas Besonderes zugetragen, oder man hatte es noch vor. Eine peinigende Angst ergriff mich; ich mußte meine Schritte beschleunigen. Wir erreichten das Portal. Die Menschen, die dort standen, waren Leute, die zum Schlosse gehörten, ein paar Bediente und einige Mägde, welche in Gruppen mit einander sprachen. Sie kannten mich, und einer der Bedienten trat auf mich zu.

„Wissen der Herr Director etwas von dem gnädigen Herrn?“

„Wie so?“

„Er ist um zehn Uhr am Abend ausgegangen und noch immer nicht zurück.“

„Wohin war er gegangen?“

„In den Park, um noch zu promeniren.“

„Hat man ihn gesucht?“

„Sie suchen noch nach ihm. Die gnädige Frau hat alle Anderen ausgeschickt.“

„Die gnädige Frau ist zu Hause?“

„Sie ist oben in ihrem Zimmer.“

„Führen Sie mich zu ihr.“


(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 564. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_564.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)