Seite:Die Gartenlaube (1861) 595.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

die Spitze war abgebrochen, ein Splitter war in die Hand gedrungen.

War diese Annahme gerechtfertigt, stand ferner fest, was freilich noch zu ermitteln war, daß der Verstorbene erst in dem Wasser seinen Tod gefunden, so war auch nicht anzunehmen, daß er sich selbst freiwillig in den Fluß gestürzt habe. Die Hand konnte dann nur Hülfe suchend, um sich im Falle festzuhalten, nach der Stange gegriffen und diese abgebrochen haben. Es war dann aber auch kein Unglücksfall anzunehmen; das Geländer war vier Fuß hoch, also immer zu hoch. als daß jemand durch einen Zufall hinüber fallen konnte. Es blieb also nur ein gewaltsames Hinüber, und Hinunterwerfen durch einen Dritten übrig; ob in einem Ringen und Kämpfen, oder ob durch einen hinterlistigen Ueberfall, darüber fehlte es an irgend einem Anhalt. Für eine gewaltsame Tödtung durch die Hand eines Dritten sprach also mindestens eine dringende Vermuthung. Welchem Dritten gehörte diese Hand?

Das Brückenthor hatte bei dem Auffinden der Leiche offen gestanden. Es war kein Schluß daraus zu ziehen. Die Leute des Schlosses waren beim Aufsuchen ihres Herrn die ganze Nacht über die Brücke hin- und hergegangen. Ob am gestrigen Abende das Thor verschlossen gewesen, war nicht zu ermitteln; für gewöhnlich wurde es im Sommer nicht verschlossen gehalten. Zu dem Schlosse waren mehrere Schlüssel vorhanden, die sich im Besitze von Gärtnern, Knechten und Arbeitern befanden. Ein Raubmord lag auf keinen Fall vor. An der Leiche waren Uhr, Börse, Brieftasche unversehrt gefunden.

Der Polizeidirector war sofort nach Entdeckung der Leiche zu der Stadt zurückgefahren, um die Sachen des Todten in Verwahr zu nehmen und zugleich die Gerichtsärzte und einen Protokollführer für mich herbeizuschaffen. Sie kamen. Die Aerzte stellten bald fest, daß der Verstorbene lebend in das Wasser gekommen war; er hatte in diesem durch Erstickung seinen Tod gefunden. Sie traten auch nach der Lage und Beschaffenheit der Handwunde meiner Vermuthung bei, daß der Verstorbene über das Brückengeländer hinüber in das Wasser geworfen sei und im Falle, um sich daran zu halten, nach der Stange gegriffen und diese abgebrochen hatte. An einer Tödtung durch die Hand eines Dritten war also vernünftigerweise nicht mehr zu zweifeln. Wer war nur dieser Dritte?

Ich hatte das Mädchen von der Seiltänzertruppe herrufen lassen. Sie erkannte in dem Todten mit der größten Bestimmtheit den Herrn, den sie für ihren Herrn gerade hierher hatte bestellen müssen. Ich ließ sie zur Seite bringen, um dann den Seiltänzer wieder vorführen zu lassen. Vorher mußte ich noch den Gutsknecht vernehmen, der den Seiltänzer mit dem Verstorbenen hatte sprechen sehen.

Er war anwesend. Er sah den Ermordeten; er halte vorher den Seiltänzer bei mir gesehen. Er kannte auch außerdem Beide, den Seiltänzer aus dessen Vorstellung; der Amerikaner war auch schon einige Male auf dem Schlosse gewesen. Er versicherte mit voller Bestimmtheit, daß er sie Beide gestern Abend zusammen im Parke angetroffen habe. Er hatte seine Geliebte, die die Vorstellung der Seiltänzer mit angesehen, nach deren Beendigung nach Hause gebracht. Sie wohnte am Ende des Dorfs Alsleben; seinen Rückweg hatte er durch den Park genommen, da er das Brückenthor über dem Alsbache, wie er vermuthete, offen gefunden hatte.

Er war bis zu der Brücke langsam gegangen, in dem Sandwege also auch leise. So wie er die Brücke hatte betreten wollen, stutzte er. Er hörte jenseits der Brücke, im Parke, zwei Stimmen mit einander reden, die ihm im ersten Augenblicke beide unbekannt waren. Bald darauf glaubte er sie Beide zu erkennen, es mußte der Amerikaner und der Seiltänzer sein. Was sie sprachen, konnte er nicht verstehen; sie redeten, wenn auch nicht gerade leise, doch mit gedämpfter Stimme. Er war neugierig, was die beiden fremden und, seiner Meinung nach, auch einander fremden Menschen in dem Schloßpark, in der späten Abendstunde geheimnißvoll mit einander könnten zu verhandeln haben. Er trat leise auf die Brücke, bis an das Thor. Das Thor lag nur angelehnt, nicht einmal im Schlosse. Er wollte es leise weiter öffnen, um hindurch zu gehen. Vorher lauschte er noch einmal; er hörte die Stimmen deutlicher; er erkannte sie nun auch bestimmt. Sie sprachen deutsch mit einander; verstehen konnte er aber nur einzelne Worte, aus denen nicht im Geringsten auf den Sinn oder Gegenstand ihrer Unterredung zu schließen war. Als er dann die Thür weiter öffnen wollte, knarrte diese trotz seiner Vorsicht in ihren Angeln. Augenblicklich war das Gespräch verstummt. Er ging dennoch auf die Stelle zu, wo er es gehört hatte, es war vorn in dem Gebüsch, das wenige Schritte vor der Brücke begann. Es war Alles still da. Als er hineingehen wollte, trat ihm der Amerikaner entgegen und sah ihn fragend an, was er hier wolle, „so recht vornehm,“ sagte der Zeuge. Das vornehme, befehlende Wesen des fremden Herrn, der bei dem Schloßherrn zum Besuche war, hatte den Knecht eingeschüchtert, und er hatte, ohne etwas zu sagen, ohne sich weiter umzusehen, ohne wieder zu horchen, seinen Weg durch den Park zum Schlosse fortgesetzt. Es war, nach seiner Berechnung, kurz vor zehn Uhr gewesen. Von dem Schloßherrn hatte er nichts gesehen und gehört.

Die Thatsache, daß um diese Zeit der Seiltänzer und der Ermordete beisammen gewesen, mußte danach in Verbindung mit der Aussage des dreizehnjährigen Mädchens als ausgemacht feststehen. Seitdem war der Ermordete nicht wieder gesehen worden. Um dieselbe Stunde oder etwas später war nach dem Gutachten der Aerzte, wahrscheinlich der Tod des Amerikaners erfolgt. Ein Anderes stand zugleich fest, daß das Brückenthor schon vor der That offen gewesen war. Wann es geöffnet worden, war auch jetzt nicht zu ermitteln, der Knecht hatte vorher einen andern Weg genommen, und die sämmtlichen übrigen Personen, die über die Brücke gegangen waren, hatten sie erst später, beim Nachsuchen nach dem Schloßherrn, überschritten.

Der Seiltänzer Hochmann, als er wieder vorgeführt wurde, erschien mit seiner vollen Sicherheit und Unbefangenheit, die ihn vorhin, beim Anblick der Leiche, nur auf einen Moment verlassen hatte. Aber er sollte nicht so bleiben.

„Sie kennen den Leichnam nicht?“ fragte ich ihn wiederholt.

„Nein,“ wiederholte auch er, vollkommen fest und sicher.

„Sie wissen nicht, daß der Todte Johansen geheißen hat?“

„Nein.“

„Haben Sie einen Mann dieses Namens gekannt?“

„Ich habe es Ihnen schon einmal verneinen müssen.“

„Bleiben Sie dabei, den Verstorbenen gestern Abend im Park nicht gesprochen zu haben?“

„Ich bleibe dabei, ich habe ihn nicht gesprochen.“

„Sie hatten ihn sogar hierher bestellen lassen.“

„Wer? Ich?“ fuhr er auf. „Das ist nicht wahr! Das ist bei Gott nicht wahr’.“

Die Worte, die Heftigkeit, mit der er sie sprach, bezeugten, daß es doch wahr war, bezeugten wiederholt, daß das Mädchen die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte auf die Frage, als eine mögliche, sich vorbereitet; sie erschreckte und verwirrte ihn dennoch, und um das zu verbergen, übertrieb er in Worten und in Entrüstung.

„Ich bringe Ihnen einen Zeugen,“ sagte ich ruhig.

„Wen?“ rief er.

„Nachher. Ich werde Ihnen vorher noch einen Zeugen Ihrer Zusammenkunft selbst mit dem Todten bringen.“

„Der Mensch schwört falsch. Wo wäre das gewesen?“

Er gab sich immer mehr Blößen. In Betreff des Zeugen der Bestellung hatte er sich noch auf eine allgemeine Frage nach ihm beschränken können. Jetzt verrieth er durch den Ausdruck „der Mensch“ schon, daß er wußte, von wem die Rede war.

„Wo es gewesen wäre?“ erwiderte ich ihm. „Hier, in jenem Gebüsche.“

„Es ist nicht wahr!“

Er mußte auch noch hinsichtlich des Mädchens zum Verräther gegen sich werden. In der Verwirrung, in der er einmal war, wurde er es leicht.

„Wir sprachen schon im Dorfe von der Amelie Rosenberg.“ fuhr ich ohne weiteren Uebergang fort.

Er konnte mich kaum den Namen aussprechen lassen.

„Das ist eine Lügnerin,“ rief er. „eine schlechte Person, ein faules Geschöpf, die ich habe strenge halten müssen, und die aus Haß, aus Rache dafür durch ihre Lügen mich verderben will.“

„Sie sprachen vorhin nichts Böses von dem Kinde,“ sagte ich.

„Warum sollte ich?“

„Warum sollen Sie es jetzt?“

„Aber sie ist eine Lügnerin, eine durch und durch verlogene Person. Fragen Sie meine ganze Gesellschaft. Sie lügt immer von mir.“

„Und was sollte sie jetzt von Ihnen gelogen haben?

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_595.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)