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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)


Mütze, wenn überhaupt, was selten, eine vorhanden, ist vom Felle junger Rennthiere. Das Hemd der Frauen, „Jandy“, ist anschließender und weit bunter, gewöhnlich mit verschiedenen Pelzstreifen und farbigen, meist rothen Tuchlappen und Streifen verziert; außerdem tragen die Weiber meist eine Kapuze von Zobel und anderen kostbaren Fellen. Ich würde den Leser gern in das Innere des auf unserem Bilde befindlichen Tschum führen, um ihn mit einer samojedischen Schönheit bekannt zu machen, aber der erste Versuch, den ich in dieser Beziehung machte, war so unglücklich, daß ich von dieser Absicht abstehe; wir kennen das Innere des Zeltes bereits aus obiger Schilderung und sehen nicht viel daran, mich aber machte der darin herrschende üble Geruch auf mehrere Tage unwohl, und die Reize dieser nordischen Venus sind von einer so gediegenen Schmutzkruste verhüllt, daß die beste venetianische Halbmaske ein wahres Kinderspiel dagegen ist, denn Wasser an seine Physiognomie zu bringen, ist dem Samojeden ein Gräuel, höchstens reibt er sich hie und da das Gesicht mit ein wenig Birkenbast, ein Reinigungsmittel, das den damit erzielten Erfolgen nach wohl nicht sehr probat ist. – Betrachten wir nun noch die Rennthiere. Sie haben die größte Aehnlichkeit mit unserem Hirsche. Die Farbe ist schmutzig weiß.. Das Auge ist groß, schwarz und deutet Intelligenz an; das Bein ist weit stärker als das unseres Hirsches, die breiten Hufe erinnern an die der Kuh. Das Geweih scheint bei ihm gar keine Norm zu haben, da ich hier nur Abnormitäten sehe. An Größe steht das Rennthier dem Hirsche bedeutend nach, und seine Haltung ist bei weitem nicht so edel, wie die des Letzteren, denn ruhend beugt es den Kopf weit nach vorn und auch im Laufe wirft es ihn weit weniger stolz zurück. Aber gesegnet seist Du, armes Thier, das du nach einem Leben der Arbeit und Entbehrung Tausenden von Menschen noch Nahrung, Kleidung und Obdach giebst.

Ein Industriezweig zieht immer den andern nach sich. So sehen wir bei dem Samojedenzelte eine Art von Roulette, bei dem man mit Kopeken sein Glück versuchen kann. Bärtige Muschiken[1] umstehen den grünen Tisch, und auch der zäheste wagt, nach entsprechendem Kratzen hinter dem Ohre, ohne das der gemeine Russe nie einen wichtigen Entschluß faßt, einen Satz, bei dem es aber dann leider nicht immer bleibt. Unterdessen gehen Verkäufer verschiedener Art umher und suchen ihre Waaren anzubringen. Hier empfiehlt ein Mensch mit einem Samowar[2] auf dem Rücken seinen heißen Thee, dort ruft ein Anderer mit heiserer Stimme sein Gefrornes aus, denn trotz der grimmigen Kälte wird auch dieses genossen. Je nach ihren allopathischen und homöopathischen Ansichten wählen die Umstehenden dieses oder jenes, während sich Andere mit dem Leibgenuß der Russen, Haselnüssen und anderen ähnlichen Delicatessen regaliren; wir aber müssen jetzt nach der anderen Seite der Winterpalaisbrücke, um uns das Wettrennen anzusehen.

In weitem Kreise umstehen Tausende von Zuschauern den auf dem Flusse zwischen dem Schloßquai und der Petersburger Seite abgesteckten Rennplatz. Zu Seiten des Balcons, auf dem die Preisrichter ihre Plätze haben, sind Tribünen angebracht, auf denen aber nur eine sehr geringe Zahl von Schaulustigen Platz findet. Wir sehen hier die Löwen und Löwinnen der Petersburger Gesellschaft. Denn trotz Paris haben auch wir unsere elegante Menagerie, und die schmachtenden Blicke unserer „biches“ stehen vielleicht denen, die Dich in Longchamps, im Bois de Boulogne etc. treffen, nicht nach. – Geschäftig laufen die Budotschniki[3] hin und her, um Ordnung zu halten, können aber doch nicht verhindern, daß in den Pausen da und dort Gruppen von Zuschauern die Barrieren überschreiten, in der Hoffnung, auf der anderen Seite der Rennbahn einen besseren Platz zu finden. Die Besitzer der gegenüberliegenden Vorderplätze jagen die Eindringlinge zurück; daher Stöße, Schelten, Schreien, Gelächter, Fallen auf dem Eise, humoristische und ernste Vermahnungen der Polizeisoldaten – da erschallt die Glocke zum Zeichen der Abfahrt, und wie durch Magie herrscht überall die musterhafteste Ordnung. Beim dritten Zeichen beginnt das wilde Jagen der Rennschlitten. Die Bahn hat drei Werst im Umfange, was, da sie je zwei Mal umfahren werden muß, also sechs Werst, d. i. 6/7 einer deutschen Meile ausmacht. In wenigen Minuten wird diese Strecke durchfahren, und je nachdem sie an den Zuschauern vorüberfliegen, wird der Sieger mit Jubel und Hurrahrufen, der Besiegte mit Gelächter empfangen. Die Rennschlitten sind von der leichtesten Construction, der Kutscher, der die Zügel führt, steht darin aufrecht; ihn begleitet für den Fall eines Unglückes stets ein anderer Kutscher, der den Sitz des Schlittens einnimmt. Es rennen immer nur je zwei und zwei Schlitten. Die Sieger rennen unter sich von Neuem, bis endlich einer sieggekrönt aus dem Kampfe hervorgeht. Die Preise bestehen in Geld, in werthvollen goldnen Medaillen und Silbergeräthschaften, die theils vom Kaiser, theils von einer zu diesem Zwecke bestehenden Gesellschaft ertheilt werden. Natürlich finden auch hier, wie in England, Privatwetten statt, und wie dort, so auch hier, hat sich schon mancher Crösus auf der Rennbahn ruinirt. Zwischen den einspännigen Schlitten ist der Kampf beendet, und sogleich beginnt das Rennen der Troiken.[4] – Wir sehen drei wirklich prachtvolle Troiken, wovon die des Fürsten S… entschieden die ansehnlichste ist. Dieser selbst betrachtet schon halb siegesbewußt mit ironischem Lächeln die Gespanne der Mitkämpfer. Fast erstaunt sind wir, als man uns noch eine vierte Troika von schmutzigweißen, hageren, finnischen Pferden als Mitbewerberin um den Preis des Tages bezeichnet. Entweder gehört sehr viel Bewußtsein oder grenzenlose Unverschämtheit dazu, mit diesen Kleppern gegen die Prachtpferde, aus denen die übrigen Troiken zusammengesetzt sind, ankämpfen zu wollen. Die Glocke erschallt, die Troiken, die das Loos bestimmte, zusammenzufahren, treten in die Schranken. Das dritte Zeichen, und die beiden Schlitten setzen sich unter Jubelruf in Bewegung. In athemloser Eile stiegen sie dahin. Der finnische Rosselenker bleibt mit seinem Gespann fast eine halbe Bahnlänge zurück. Lautes Jauchzen begrüßt die augenscheinlich siegende Troika des Gegners, als sie zum ersten Male am Ziel vorüberfliegt. Bald folgt auch der armselige Dreispann des Finnen unter dem Hohngelächter der Menge. Aber schon sind sie unseren Augen entschwunden. Nach einigen Minuten bemerken wir am Drängen am unteren Theile der Bahn, daß sie herankommen, und siehe, plötzlich erscheinen beide Troiken auf gleicher Linie; mit Windeseile schießen sie heran – einige Secunden athemloser Spannung, dann ein lautes Hurrah! – der Finne ist zuerst am Ziele angekommen!

Nun beginnt das Rennen der beiden anderen Troiken; die des Fürsten S. bleibt Siegerin. Den Pferden wird eine halbstündige Rast gegönnt, während welcher Fürst S., der noch immer ironisch lächelt, in der Bahn auf- und abgehend, einige Freunde bittet, ihm den Punkt anzugeben, wo seine Troika die des Finnen überholen soll. – Wir betrachten uns mittlerweile die uns im Rücken liegende Festung mit dem kühn himmelanstrebenden Glockenthurme der Kathedrale Peter und Paul. – Schon erschallt wieder das Signal. Beim ersten Tone des dritten Zeichens pfeift die Knute[5] des Finnen durch die Luft; im wilden Laufe stürzen die Pferde davon; ehe noch der fürstl. S.’sche Kutscher sich in Bewegung setzen konnte, hatte er schon einen bedeutenden Vorsprung und blieb, trotz aller Anstrengungen des Gegners, Sieger. Fürst S. war verschwunden. Ob er wohl noch ironisch lächelte?

Aber mittlerweile ist es kalt geworden, schon hüllt sich unsere Umgebung in abendliche Nebel. Wir werden gut daran thun, die erstarrten Glieder in irgend einem warmen Raume aufzuthauen; der Fluß ist öde geworden, auch wir gehen. – Eilt nicht dort nach der Festung zu eine lange Reihe von Schlitten? – Sie liefert uns den Beweis, daß es heute unseren außerstädtischen Vergnügungsorten Chrestofsky, Petrowsky etc. nicht an Besuchern mangeln wird. – Sollte es Herrn Keil angenehm sein, so fahren wir wohl einmal mit einander auch dorthin. Bis dahin auf Wiedersehen – und besten Gruß an die deutsche[WS 1] Heimath!



  1. Eigentlich Bauer, verächtlich gesprochen, wird aber auf Alle, die den niederen Volksclassen angehören, angewandt.
  2. Wörtlich Selbstkocher, die Theemaschine, die bei dem Russen das wichtigste Hausmöbel ist. Es wird mit Wasser gefüllt, das ein in der Mitte befindlicher, mit glühenden Kohlen gefüllter Cylinder schnell zum Kochen bringt.
  3. Schutzmänner. Der Name ist abgeleitet von ihren Wachthäusern, die man Budka nennt.
  4. Dreispann.
  5. Peitsche, ein kurzer Holzstiel mit einem kurzen Riemchen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: deutschen
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_215.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)