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der dem Tode in’s Auge blicken kann, ohne mit der Wimper zu zucken. Bevor der Tag anbricht, macht sich der mit Sense, Fußeisen und Stricken bewaffnete Wildheuer auf den Weg. Zuweilen begleitet ihn etwa sein Bruder oder sein kecker vierzehnjähriger Bube, der von dem Vater den verwegenen Muth und die Klettergewandtheit geerbt hat. Geht’s hoch her, so kommt auch eine Ziege mit und eine Pfanne, um deren Milch da droben zum genügsamen Mahle zu kochen. Auf der Hälfte Weges, auf der Halbhöhe des Zieles, läßt er seinen schmetternden Jauchzer in das noch im schattigen Schlummer liegende Thal hinab ertönen, und verzehnfacht kehrt der frohe, urkräftige Naturlaut von allen Felswänden her zum Urheber zurück, zuletzt wie Geisterflüstern in der Ferne verklingend. Dieser Jauchzer hat aber keineswegs immer das frohe Gefühl zum Motive, das so eigenthümlich aus ihm herauszuklingen scheint. Es ist im Gegentheil eine ängstliche konventionelle Anfrage, ob nicht etwa schon ein Anderer dem Jodler auf dem in Gedanken mit Beschlag belegten Platze zuvorgekommen und sein mühevolles Steigen am Ende umsonst sei. Auch diese kleinen Grasplätzchen, dieses in den Lüften hängende Gut, das nur mit so saurem Schweiße, mit Lebensgefahr erworben werden kann, machen sich hier die Menschen nicht selten streitig, und oft ist es vorgekommen, daß auf dem schmalen, abschüssigen Raume, am Rande des schwindelnden Abgrundes, furchtbare Zweikämpfe um das Recht der Priorität ausgefochten wurden, die damit endigten, daß der Besiegte kopfüber geworfen in die räthselhafte Tiefe flog.

Hat der Wildheuer seinen Platz auf schmalen Felsenpfaden erreicht, und ist er so glücklich, daß Niemand ihm das gefährliche Territorium streitig macht, so läßt er sich, wie unser Bild zeigt, an dem von seinem Bruder oder Knaben gehaltenen Seil auf die abschüssige Felsenterrasse hinunter und mäht mit seinen sehnigen Armen, abwärts, dem Abgrunde zuschreitend, den dürftigen Graswuchs nieder; Ranunculus glacialis, Chrysanthemum alpinum, Saxifragen und freundlich blühende Gentianen fallen nebst ihren feinhalmigen Genossen unter den gutgeführten Zügen der Sense, um, wenn das Wetter günstig bleibt und Jupiter Pluvius sich nicht etwa ungebeten in’s Spiel mischt, in der glanzvollen Augustsonne bald zu wohlriechendem Bergheu zusammenzutrocknen. Bei gehöriger Vorsicht ist da die Gefahr just so groß nicht. Das eigentlich Gefährliche des mühseligen Tagewerks beginnt erst, wenn das getrocknete Heu, in ein mächtiges Bündel zusammengeschnürt, auf den breiten Rücken geladen und auf dem schmalen Pfade, längs schwindelnden Abgründen hinunter getragen werden muß, auf den mehr gesicherten Platz, wo der über die Höhen wegfegende Wind die leichten Halme nicht so leicht mit sich fortwirbeln kann. Auf diesem verhängnisvollen Gange bedrohen den Wildheuer all die Gefahren, all die Schrecknisse, welche den waghalsigen Gemsjäger umlauern. Ein falscher Tritt unter der schweren Bürde, das leiseste Straucheln auf dem schmalen Pfade, ein unvorsichtiges Anstoßen an einen vorspringenden Stein mit seiner Last kann ihn in den gähnenden Rachen schleudern, der sich zu seinen Füßen aufthut. Wie über der flüchtigen Gemse und ihrem rastlosen Verfolger schwebt hoch über ihm die Hyäne der Lüfte, der raub- und mordgierige Geieradler, bereit, den Augenblick zu erspähen, wo der Schwindel oder ein unvorhergesehenes Ereigniß den festen Tritt des wagehalsigen Mannes zum Straucheln bringe, um sich dann pfeilgerade auf ihn niederfallen zu lassen und ihn mit dem mächtigen Wehen seiner gewaltigen Schwingen in’s Nichts hinauszuschleudern.

Drunten, auf dem unter Dach gebrachten oder auch nur um eine eingerammte Stange aufgeschichteten Bergheu, da ruht sich’s freilich warm und sogar bequem aus nach so hartem Tagewerke, besonders wenn es der Wildheuer in Bezug auf kleine Störungen nicht zu genau nimmt, und sich durch den gelegenheitlichen Besuch der giftigen Kreuzotter oder einer Ringelnatter, welche liebe Thierchen, beiläufig gesagt, die Vorzüge eines warmen Lagers im duftigen Bergheu vortrefflich zu würdigen wissen, nicht aus der Fassung bringen läßt.

Mit diesem Nachtlager wären denn auch die Mühen und Gefahren der Sommerarbeit überstanden. Das Heu vollends zu Thale zu schaffen, dazu wird der Winter abgewartet, der mit einer soliden tiefen Schneedecke die Gebirgslandschaft einzuhüllen pflegt. Dann geht der Wildheuer mit seinem Schlitten wieder hinauf an den Ort, wo er seinen Vorrath aufgestapelt hat, macht aber nicht selten die verdrießliche Entdeckung, daß die hungrigen Gemsen sich einen guten Theil des ihnen vor der Nase weggenommenen Futters wieder angeeignet haben und somit ein Stück seiner sauren Arbeit umsonst gewesen ist. Nun, der Mann ist meist auch Gemsjäger, er gehört zu den wunderlichen Leuten, welche diese schönen Thierchen aus lauter Liebe todtschießen, und nimmt’s ihnen daher nicht so übel, daß sie ohne Einladung bei ihm zu Gaste gewesen sind. Er packt den Rest seiner Habe so viel wie möglich auf einmal auf seinen Schlitten, stellt sich zwischen die Stangen, und bergabwärts geht’s den vielfach gekrümmten, schmalen Weg über die dachsteilen, unebenen, mit Steintrümmern überschütteten Halden, wie Gewittersturm. Auch da gilt’s einen sichern Blick und kühlen Muth; denn käme das mit Dampfschnelligkeit daher brausende Fuhrwerk nur ein wenig aus der bestimmten Richtung, so wäre häufig ein Luftsprung von einigen tausend Fuß für Mann und Ladung eine unvermeidliche Sache, oder im günstigsten Falle würde doch immer die letztere auf Nimmerwiedersehen davon fliegen.

Nicht selten tritt auch ob solcher Beschäftigung selbst im Winter Thauwetter ein, und dann ist der Rückkehrende oft in dringender Gefahr, von den Lauinen verschüttet und in die Tiefe gerissen zu werden, da die gewöhnlichen Geleise dieser Ungethüme des Hochgebirgs gar häufig seine Pfade kreuzen. Dem Muthigen aber hilft Gott. Ein Glarner, der von solchem Thauwetter überfallen wurde und voraussah, daß er den Lauinen kaum mehr zu entrinnen vermöge, resolvirte sich kurz, gab seinem Schlitten die gerade Richtung über den drei Viertelstunden langen, furchtbar steilen, mit Felsvorsprüngen durchspickten Abhang hinunter, klammerte sich, statt vorn Platz zu nehmen, hinten an das Fuhrwerk, steckte den Kopf sorglich in die Heubündel hinein, betete ein Stoßgebetlein und ließ, wie er sich später ausdrückte, der Sache ihren Lauf. Wie ein Drache schoß das Heufuder mit ihm thalwärts, rings den Schnee in seinem rasenden Laufe aufwirbelnd, – das gottversuchende Wagniß gelang, und wohlbehalten kamen Mann und Ladung auf der Thalsohle an.

„Ein erbärmlich Leben, entsetzlich viel Mühe und Gefahr um so wenig Gewinnst!“ werden Sie ausrufen, verehrteste Leser. Schiller scheint ganz derselben Ansicht gewesen zu sein, da er im Tell Rudolph den Haraß, den Mann der Armgard, der Gnade des Landvogts empfiehlt und als Grund anführt, der Fehlbare sei ein Wildheuer und solch’ erbärmlicher Beruf sei an sich schon Strafe genug. Die Wildheuer würden Sie aber groß anschauen, wenn Sie diese Ansicht vor ihnen laut lassen würden. Der Wildheuer ist trotz alledem ein kerngesunder und mächtig froher Bursche, dem es sehr schwer ankommen würde, zu Hause zu bleiben, wenn seine Handwerksgenossen jodelnd an ihr mühevolles Tagwerk gehen. Aus der Gefahr macht er sich keinen Pfifferling, mit der hat er schon als Geißbube auf dem vertrautesten Fuße gelebt, und ist auch als Gemsjäger gewohnt, in allen Gestalten mit ihr zu spielen. Das Ringen mit den gewaltigen Hindernissen der Natur und mit den Schrecknissen der Gebirgswelt übt auf ihn denselben Zauber, wie der Donner der Schlacht auf den erprobten Krieger, und wie dieser erzählt er in gehobener Stimmung gern von seinem kühnen Wagen. Mißlingt’s ihm einmal, so hat er selten Gelegenheit, lange über die Folgen seiner Verwegenheit nachzudenken. Zudem hat das Wildheuen noch einen eigenthümlichen Vorzug vor andern, weniger mühevollen Gewerben – es schärft auf eine merkwürdige Weise den Appetit. Der Magen eines Wildheuers giebt an Leistungsfähigkeit dem eines Lämmergeiers nichts nach, der doch erwiesenermaßen den Knochen des Hinterbeins von einem Rinde zu verdauen vermag. Ein Bursche, der ohne Beschwerde geschmolzene Butter mit Löffeln essen kann, als wär’s eine schmackhafte Reissuppe, muß sich bei der Aussicht auf ein leidlich gutes Mittagsessen in einer Glücksstimmung befinden, von der Unsereins sich kaum eine richtige Vorstellung machen kann, und zu solchem haarsträubenden Unterfangen ist jeder Wildheuer capabel, wenn er aus seinen luftigen Höhen zur Tiefe zurückkehrt.

Kommt dann noch dazu, daß der Wildheuer noch jung und unverheirathet ist, und daß zwei hellblaue Augen seiner Rückkehr sehnend entgegenschauen, daß so eine blondhaarige Lauscherin ihm mit den Augen das Herz und mit ordinärem Feuer die Butter schmilzt, so vermögen wir nicht einzusehen, warum er nicht zu den Glücklichen dieser Erde gezählt werden sollte.

A. Bitter.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_374.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)