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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

beseitigt, bleibt ihr doch ihr Rang in der Geschichte der Wissenschaft. Peter Anich erhielt von Maria Theresia Befehl, Tyrol zu vermessen. Mit lebhafter Freude machte er sich an diese Arbeit, deren Schwierigkeit nur jener beurtheilen kann, der sich einmal im Gebirge mit wissenschaftlichen Untersuchungen irgend einer Art beschäftigt hat. Wie viele Bergspitzen, die bis jetzt noch kein Fuß betreten, mußte er ersteigen; wie oft drohten Lawinen und Steinbrüche ihn in den Abgrund zu schleudern, wie viele Gletscher voll tückischer Klüfte durchwanderte er! Hatte er den Tag hindurch Noth gelitten und die Sonnenhitze ertragen, so mußte er die Nacht oft am Rande des Eises zubringen, wobei, wie er selbst erzählt, der Boden, auf dem er lag, oft steinfest gefror. Im Unterinnthal hatte er einst einen Gipfel erklettert, da sah er von fern ein furchtbares Gewitter anziehen. Er lief schnell abwärts einem Baume zu, unter welchem sich drei Kühe geborgen hatten. Plötzlich fuhr ein Blitz durch die Luft, der Baum flackerte in Flammen auf und die Rinder lagen erschlagen. Diese Hindernisse setzte ihm die Natur entgegen, andere bereitete ihm der Unverstand des Volkes. Die Bauern, stets mißtrauisch gegen die Regierung, glaubten, Anich sei abgesandt, ihre Felder zu vermessen, damit man sie mit höheren Steuern belasten könne. Wenn er daher in einem Dorfe todmüde ankam, so versagte man ihm hartherzig Lager und Nahrung, so daß er oft mit einem Stücklein Brod vor den Hausthüren schlafen mußte. Andere schrieen, die Sicherheit Tyrols gehe verloren, wenn Karten mit allen Wegen, auf denen der Feind einbrechen könne, entworfen würden. Man schalt ihn einen Landesverräther und bedrohte seine leibliche Sicherheit auf verschiedene Weise. Es gehörte der Heldenmuth einer tüchtigen Natur dazu, um im Kampfe mit so zahlreichen Gegnern nicht zu erliegen.

Im Spätherbste 1760 legte er der Regierung das erste Blatt seiner großen Karte fein gezeichnet und sicher ausgeführt vor und erwarb sich damit solche Zufriedenheit, daß man ihn zur Fortsetzung der Arbeit aufforderte. Erregte dieses einerseits seine größte Freude, so erklärte er andererseits doch, daß er zur Vollendung eines so umfassenden Werkes, das Jahre ungebrochener physischer Kraft verlangte, nicht ausreiche, und bat daher, man möge ihm gestatten, einen Gehülfen abzurichten und mitzunehmen. Gern wurde ihm für einen solchen die nöthige Geldsumme zugestanden und die Auswahl desselben ganz seinem Gutbefinden anheim gestellt.

Da war das arme Lehrerlein von Oberperfuß, Blasius Huber, der eine Stube voll Kinder und im Sommer, wo die Schüler auf dem Feld arbeiten, nicht viel zu verdienen hatte. Ein Freund von Anich hatte er diesem manche kleine Hülfe geleistet, bei seiner Neigung zur Mathematik konnte ihm nichts erwünschter kommen, als der Antrag, ordentlich Geometrie zu lernen und dann den Sommer auf Vermessung zu gehen. Anich verwendete den Winter für den Unterricht. Huber studirte Tag und Nacht, im Frühlinge war er schon so weit, daß ihn der Freund zu Weinhart nach Innsbruck führen konnte, der ihn nach kurzer Prüfung als völlig befähigt erklärte, bei der Landesaufnahme mitzuwirken. Beide machten sich nun auf den Weg; jeden Herbst wurde ein Blatt fertig, jedes Blatt brachte ihnen neuen Ruhm, bereits wurde ihr Name auch außerhalb Tyrols mit voller Anerkennung genannt. Im Frühling 1766 nahmen sie das Etschthal in Angriff, dort arbeiteten sie in den sumpfigen Niederungen der Etsch, wo kaum die Eingeborenen der Ungunst des Klimas zu trotzen vermögen, um so weniger Leute, die stets an den Genuß der reinen Alpenluft gewöhnt waren. Beide erkrankten im August so heftig, daß sie im Wagen nach Hause geliefert werden mußten. Bei Anich gesellte sich die Gicht dazu; der Statthalter, welcher den Werth des seltenen Mannes zu schätzen wußte, sandte seine Leibärzte nach Oberperfuß, um ihn zu heilen. Ihre Kunst konnte jedoch nur eine kurze Frist wirken, gerade lang genug, um in das Leben des Dulders einige Lichtblicke fallen zu lassen. Maria Theresia verlieh ihm den goldenen „Ehrenpfennig“ mit der Weisung, ihn an allen hohen Festen als Auszeichnung zu tragen, und um ihn vor Mangel zu schützen, einen Gehalt von 200 Gulden. Er starb jedoch schon im Herbste 1766 allgemein bedauert, denn nicht blos ein glänzendes Wissen, sondern auch Reinheit und Lauterkeit des Charakters zeichnete ihn aus. Um den Todten zu ehren, gestattete der Bischof von Brixen, daß er anstatt auf dem Friedhof in der Kirche begraben wurde. Die Landesaufnahme war zu zwei Dritteln vollendet, den Rest der Arbeit übernahm Blasius Huber nach seiner Genesung und führte dieselbe unter großen Beschwerden und vielfachen Gefahren auch glücklich zu Ende. Ihm war es vergönnt, ein hohes Alter zu erreichen, er verschied 1814 zu Inzing, wo ihm ein marmorenes Denkmal errichtet wurde.

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Kunstketzereien.

Nr. 1.
Märtyrer der Kunst - Da Genie darf nicht mit dem gewöhnlichen Maßstabe gemessen werden - Dunkle Sehnsucht.

Ueber die Phrasenmacherei und ihren schädlichen Einfluß auf Empfinden, Denken und Thun der Menschen ist freilich schon oft hier gescholten, dort gespottet worden, aber ausgerottet ist das verderbliche Gezücht noch lange nicht. Gar viele Wahrsprüche und Scheinwahrheiten von geistigen Autoritäten in der blendenden Hülle axiomartiger Sentenzen ausgestreut, laufen seit Jahrhunderten durch die Welt, unterstützen die Dummheit oder Schlechtigkeit und bleiben Hemmschuhe der Aufklärung des Menschengeschlechts.

Fänden solche täuschende Phrasen nur Eingang bei dem geistigen Proletariat, so wäre es immer noch bedauerlich, aber erklärlich. Allein oft gerade von den Begabtesten und Gebildetsten werden jene trügerischen Vorspiegelungen am liebsten im Munde geführt, um ihre Eitelkeit, ihren Hochmuth, ihre arroganten Ansprüche an das Schicksal und die Menschen vor Anderen und vor sich selbst zu unterstützen und zu rechtfertigen. – Es ist meine Absicht, dergleichen durch einen langen Gebrauch fast geheiligte Allgemeinsätze einmal schärfer anzusehen, als es bisher geschehen zu sein scheint, um zu zeigen, daß das, was man bislang für ein ehrliches Angesicht gehalten, nur eine trügerische Maske war, hinter der die absichtliche Lüge oder der unbewußte Irrthum zum Vorschein kommen.

Ist zur Ausführung dieses Vorhabens nicht die Gartenlaube der rechte Schauplatz? Sie hat sich ja den Kampf gegen alle Arten von Irrthümern und Vorurtheilen und damit die Beförderung der Aufklärung und Humanität nach allen Seiten hin zu einer ihrer Hauptaufgaben gemacht. Außer dem Papst ist bekanntlich Niemand unfehlbar. Ich kann daher selbstverständlich nicht die arrogante Einbildung hegen, immer den Nagel auf den Kopf zu treffen. Wenn es mir aber nur gelingt, durch meine ketzerischen Zweifel den unbedingten Glauben an manchen bisher für unbestreitbar wahr gehaltenen Satz einigermaßen zu erschüttern, so bin ich schon zufrieden. Mögen geistig besser als ich Ausgerüstete dann weitere und kräftigere Bannformeln gegen die trügerischen Phantome schleudern, bis sie vollständig verjagt und ihre schädliche Einwirkungen vernichtet sind.

Als Generalissimus aller Truggedanken, welche von den leidenschaftlichen Kunstfreunden für die übertriebene Vergötterung des Künstlerthums in’s Feld geführt werden, ist der Satz zu betrachten: „Die Geschichte großer Menschen ist immer eine Märtyrerlegende.“ Jede Widerwärtigkeit, welche die Menschen überhaupt verschuldet oder unverschuldet trifft, soll bei dem Künstler allein eine unvermeidliche Nothwendigkeit seines Berufs sein. Der Künstler nur sei von Haus aus zum Leiden geschaffen, das bringe nothwendig das Wesen des Genie’s mit sich. – „Das kann nur mir passiren,“ sagt allerdings auch der gewöhnliche Mensch, wenn ihm etwas nicht nach seinem Kopfe geht und er ein egoistischer Narr ist. Dann aber wird er von den Verständigen ausgelacht. Wenn hingegen der Künstler bei einer Fatalität, die ihn möglicherweise wie jeden andern Menschen treffen kann, pathetisch declamirt: „Da seht, das kann nur mir, dem Künstler, dem Genie begegnen!“ so stimmt ihm männiglich bei und bedauert tief den armen Märtyrer seiner Kunst!

Wir werden sehen, wie viel Wahres hieran ist, wenn wir die einzelnen Vorwürfe untersuchen, welche jene Generalanklage bestätigen sollen. Vorläufig will ich nur auf ein Wörtlein in dem fraglichen


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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_694.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)