Seite:Die Gartenlaube (1862) 710.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

gleichmäßig ist wohl die Physiognomie eines anderen Stadttheils geblieben. Auch dieser ist in seinem Ausdrucke ernst und finster, doch herrschte hier bei den Bewohnern nur selten Lust und Freude. Stets unterdrückt und verfolgt, fehlte ihnen, mit Ausnahme weniger Familien, selbst ein mäßiger Wohlstand, so daß die Häuser hier auch nur meist ein ärmliches Aussehen tragen und dieses Viertel gleichsam als die Kehrseite Prags zu bezeichnen wäre. Es ist die Judenstadt, seit 1850 auch Josephstadt genannt.

Eine geschichtliche Erwähnung erfährt die Prager Judenschaft zuerst im Jahre 995, wo hier eine große Anzahl von Juden vorhanden gewesen, welche bei einer Empörung der heidnischen Bewohner, gegen die geringere Zahl von Christen, letzteren[WS 1] nicht unerheblichen Beistand leisteten und „von welcher Zeit an die Juden sich in ganz Böhmen also vermehrt haben: daß dieselben von etlichen Saeculis her einen sehr großen Theil der böhmischen Inwohner constituirt haben“.

Als die Juden nach der Vertreibung aus ihrem gemeinsamen Wohnorte, unterhalb des Schlosses Wyssehrad, (sprich Wischerad) der Wiege Prags, im Jahre 1098, dies Gebiet für die Zukunft meiden sollten, siedelten sie in die heutige Prager Judenstadt über. Eine große Verfolgung, bei der über 10,000 Juden das Leben verloren, erlitten sie im Jahre 1290 unter jenem fränkischen Fleischer Rinntfleisch, welcher, wie in vielen anderen Orten, so auch hier, an der Spitze einer wüthenden Schaar, das Judenviertel durchzog, es plünderte und die Bewohner schonungslos morden ließ. Hieran reiht sich eine lange Kette ihrer Verfolgungen, aus der wir nur die bekannte Judenmetzelei am Ostersonntage, den 18. April 1389, über die ein Zeitgenosse, der Rabbi und Dichter Abigdor, eine Elegie dichtete, welcher später zum Theil dem Ritualgebete des Versöhnungstages hinzugefügt wurde, so wie diejenige des Jahres 1421, die in neuerer Zeit Alfred Meißner den Stoff zu seinem Gedichte „das Passahfest“ gab, erwähnen. Eine besondere Schonung wurde ihnen während der Regierung des in Deutschland durch seine goldene Bulle bekannten Kaisers Karl IV. zu Theil, obwohl sie auch in dieser Zeit nicht ganz ungestört lebten. Hatte man ihnen früher die Versündigung an geweihten Hostien zur Last gelegt, so beschuldigte man sie jetzt, die Brunnen vergiftet und dadurch die herrschende Pest hervorgerufen zu haben. Um sie weniger den Rohheiten des Pöbels auszusetzen, wurden ihnen besondere Rechte zugestanden, welche noch jetzt in dem ältesten Stadtbuche Prags mit der Ueberschrift: „Das seynd der Juden Recht“, verzeichnet stehen. Es wird darin aufgeführt: „Man soll die Juden in ihren heiligen Tagen weder mit Stecken noch mit Steinen betrüben. Ob ein Christ einen Juden verwundet, der gebe dem Könige zu Buß 12 Mark Goldes und dem Juden 12 Mark Silbers und den Arztlohn; ob ein Christ einen Juden zu Tod schlägt, den soll man peinigen, als billig ist, und dessen Gut soll dem Könige gänzlich verfallen sein etc.“ – Im Jahre 1689 brach in der Judenstadt eine große Feuersbrunst aus, welche durch mehre von einem Minister Louvois gedungene Mordbrenner angelegt sein soll, und durch die 318 Häuser und 11 Synagogen abbrannten. Auch in neuerer Zeit hatten die Prager Juden manche Leiden zu ertragen. Als die Preußen nach Eroberung Prags 1744 die Stadt verließen, drangen die ungarischen Truppen und Dalmatiner ein, und mit dem Pöbel verbunden plünderten sie die Judenstadt, was nach einem Berichte des Judenältesten an die böhmische Statthalterei einen Schaden von über 100,000 Gulden verursacht haben soll. Das Schwerste mußten sie jedoch ein Jahr darauf ertragen. Schon früher waren häufig Befehle zu ihrer Vertreibung aus Prag gegeben, doch immer wußten sie durch bedeutende Geldgeschenke die höheren Beamten für sich zu gewinnen, so daß ihnen stets wieder ein längerer Aufenthalt gestattet wurde. Erst während der Regierung der Kaiserin Maria Theresia kam es im Jahre 1745, zufolge eines Majestätsbriefes, trotz vielfacher Vorstellungen der städtischen Behörde, die namentlich auf den bedeutenden Schaden, welcher dadurch der Stadt entstände, hinwies, zu einer umfassenden vollständigen Vertreibung, so daß im darauf folgenden Jahre nicht ein Jude von den zur Nachtzeit die Häuser durchsuchenden Wachen hier aufgefunden wurde. Gleich einer ausgestorbenen Stadt sah jetzt dies Viertel aus, selbst die Kranken mußten außerhalb Prags in Lazarethen untergebracht werden. In den naheliegenden Dörfern, welche überfüllt wurden, flüchteten sich die Juden; Entbehrungen aller Art brachten ihnen bald gefährlich ansteckende Krankheiten, deren weitere Ausdehnung zu befürchten war. Endlich, nach unzähligen Leiden, wurde ihnen am 5. August 1748 die Rückkehr nach Prag, unter der Verpflichtung einer jährlich zu zahlenden Contribution von 211,000 Gulden, gestattet. – Wie uns die Geschichte der Prager Juden eine Reihenfolge ununterbrochener Leiden mittheilt, so bietet auch die Judenstadt in ihrem jetzigen Aussehen noch ein treues Bild ihrer unglücklichen Vergangenheit.

Wenden wir uns vom großen Altstädter-Ring, der mit seinem gothischen Rathhause, der alten Teynkirche und dem schönen Kranze der hohen Häuserfronten wohl einen der interessantesten Plätze Europa’s in charaktervollster Schönheit bildet, in nordwestlicher Richtung, so befinden wir uns nach ganz kurzer Wanderung in der Judenstadt.

Gleich anfangs dehnt sich vor uns in langer, enger Straße der „Tandelmarkt“ aus. Hier herrscht ein gar bewegtes Leben, das sich zur Mittagszeit, wenn der böhmische Bauer seinen Kindern etwas „aus der Stadt“ mitzubringen und hier billig zu kaufen gedenkt, zum regsten Gewühl steigert. In buntester Auslage, Tisch an Tisch, liegen die Waaren vor uns ausgebreitet, welche meistens in Schmucksachen für Kinder aus Blech und Messing mit entsprechender „Vergoldung“, Regenschirmen, Mützen, alten Kleidern etc. bestehen. Die Frage: „Gnäd’ges Herrche, nichts z’ handle?“ hört man unzählige Male im Vorübergehen, und beim Stehenbleiben schließt sich auch sogleich das Aufzählen derjenigen Sachen, mit denen der Verkäufer Handel treibt, in nicht nachzuahmender Zungengeläufigkeit an. Sehen wir in einen solchen „Laden“ hinein, so wundern wir uns, wie der Verkäufer aus diesem Chaos des Untereinanders überhaupt etwas vorfinden kann. Die Unordnung scheint hier meistens zur Regel geworden zu sein. Ost sitzt im Hintergründe ein altes jüdisches Mütterchen zusammengekauert, das in dieser Dunkelheit kaum sichtbar ist, weil ein Fenster in dem Raume selten befindlich und das Tageslicht durch den Eingang nur spärlichen Zutritt hat. Zwischen den hohen, geschwärzten Häusern mit eisenvergitterten Fenstern, deren Glasscheiben theils mit dickem Staube überzogen, theils zertrümmert sind, schiebt sich der rege Verkehr des täglichen Marktes hin und her. So lebhaft es hier zugeht, eben so still ist es in den anderen Straßen. Die finsteren Häuser, von denen ein einzelnes häufig 8 – 10 verschiedene Besitzer zählt, sehen verwettert und trotz ihrer zahlreichen Bewohnerschaft unbewohnt und verlassen aus. Die meisten Straßen sind winkelig und eng; die Atmosphäre in ihnen ist dunstig und ungesund. In dieser abgeschlossenen, stillen und ernsten Umgebung scheint es uns, als ob die Geschichte das tiefe Gepräge langer Leiden der Stadt und ihren Bewohnern unverkennbar aufgedrückt. Wir empfinden die Stimmung, wie sie Alfred Meißner in nachstehender Strophe ausspricht:

O schwarze Judenstadt! Im lauten Prag
Ein stummes, trauerndes Jerusalem,
Durch deine Gassen zieht am hellen Tag
Das ewige Gespenst von Ehedem
Lebend’ges Grab! In deine Räume fällt
Kein heller Schimmer und kein Hauch der Welt,
In deinen Gassen ist die Jugend alt,
Der Frühling duftlos und die Sonne kalt,
Durch hohe Dächer kaum ein Sonnenblick!
Hier schweigt die Lippe, und hier schweigt der Stein,
Hier schläft des Lebens Wettkampf und Geschick,
Nur Juda’s Trauer wacht und schläft nicht ein!

Abends, wenn in den andern Stadttheilen noch das lauteste Leben herrscht, das in fernen Tönen hier herüber klingt, sind die Thüren der Häuser längst verschlossen, die Straßen leer. Hier und da bricht durch die blinden Fensterscheiben ein matter Lichtschimmer, unheimliches Schweigen umgiebt uns. Eine gewisse Spannung lagert sich in den engen Straßen: Wir glauben den hellen Schein des Pechkranzes, jenes unheilvolle Zeichen Prags, von dem Rathhause der Altstadt leuchten zu sehen und jeden Augenblick die Sturmglocken zur Verfolgung dieser Bewohner zu hören!

An öffentlichen Gebäuden besitzt die Judenstadt ein Rathhaus, welches den Juden wegen ihres tapfern Beistandes in der Schwedenbelagerung Prags 1648 mit Thurm und Uhr zu zieren erlaubt wurde, einige Wohlthätigkeitsanstalten und die in geschichtlicher, wie architectonischer Beziehung interessante Synagoge „Altneuschule“ aus dem 13. Jahrhundert, von frühgothischem schlichten Hallenbau, dessen Schiff von zwei schlanken, achteckigen Pfeilern getragen wird. Von düsterer[WS 2] Wirkung ist der Eindruck dieses alten Architecturwerkes. Dichter Staub deckt die schwarzen Wände, an denen viele Blutspuren

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: letzeren
  2. Vorlage: düsterr
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_710.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)