Seite:Die Gartenlaube (1865) 682.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Vom Marschall Vorwärts unter den Lehrern.
Vom Director Wichard Lange in Hamburg.
Zur Geburtstagsfeier eines Gemaßregelten.
1. Die Achse bricht.

Ein alter klapperiger Postwagen fuhr in die große Friedrichsstraße Berlins. Darinnen saß eine Familie, bestehend aus zehn, zwei älteren und acht jugendlichen, Häuptern. Der Mittelpunkt des Kreises, ein breitschultriger Mann von untersetzter Gestalt, hoher Stirn und buschigen Augenbrauen, unter denen ein paar tiefliegende Augen hervorblitzten, betrachtete die hohen Gebäude zur Rechten und zur Linken mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit. Um den scharf zugekniffenen, fast lippenlosen Mund zuckte es bisweilen, als verdrängte ein Gefühl das andere und als wogten große Entschlüsse in der Seele des Mannes. Selbst die feingeschnittene Adlernase verrieth in ihren leisen Bewegungen die innere Unruhe. Das Ziel der Reise lag nahe. Der alte Postwagen bog ein in die Oranienburger Straße. Die letzte Schwenkung, welche man ihm zugemuthet hatte, schien er übel vermerkt zu haben. Er stöhnte und knarrte verdächtig, erlaubte sich reglementwidrige Bewegungen und stand endlich still: die Achse war gebrochen. Der Mittelpunkt des Kreises aber ließ sich nicht wesentlich durch diese Tücke alteriren. Er stand fröhlich auf, zählte wohlgemuth die theuren Häupter seiner Lieben und schritt mit ihnen einem unansehnlichen Hause zu, das seine zukünftige Werkstatt bilden sollte. Hier, in dem ehemaligen Entbindungsinstitute, sollte er die Geister der Jugend hinfort entbinden, die der schulpflichtigen Kindheit und die der Jünglinge, die da berufen waren, die Söhne des Volks zu erziehen und zu bilden, weil „Gott will, daß allen Menschen geholfen werde, und daß sie alle zur Erkenntniß der Wahrheit kommen.“

Diesterweg – denn er war’s, der am 5. Mai 1832 am Morgen, als gerade der Mercur durch die Sonnenscheibe ging, in Berlin einzog – hatte sich bereits in Mörs in Rheinpreußen seit 1820 als ein Meister in der Kunst der Menschen- und Lehrerbildung bewiesen. Sein Ruf durchdrang die pädagogische Welt. An der neuerrichteteten Anstalt in der „Metropole der Intelligenz“ sollte der Hervorragendste und der Beste wirken. Männer, wie der Bischof Roß, Kortüm und Strauß hatten es so gewollt, und der Minister Altenstein hatte es also beschlossen. Und so beriefen sie nach Berlin den Pionier der Volksbildung, über dessen Wirksamkeit am Rhein sich Schmitthenner also geäußert hatte: „Preußen hat am Rhein in Coblenz, Köln und Wesel drei furchtbare Festungen gebaut und ausgebaut zum Schutz und Trutz gegen die Nachbarn und zur Sicherung des Reichs. Aber es hat eine andere aufgethürmt, die ist noch stärker und fester, das ist die Cultur des Volks. An dieser nun hat der Dr. Diesterweg bauen helfen und beim Geniewesen tüchtige Dienste gethan, wie er denn ein ziemlicher Meister ist in Licht und Feuerwerk. Darum hält ihn der Staat in Ehren.“ Er hielt ihn wenigstens damals in Ehren, und der Meister begann seine Wirksamkeit mit aller Energie und aller Begeisterung, wie sie einer großen, sich ganz an eine Idee verlierenden Seele eigen zu sein pflegen.

Da sitzen die neuaufgenommenen Jünglinge im Saale der Anstalt und harren halb freudig, halb ängstlich des Meisters. Er tritt mit schnellen, ja hastigen Schritten mitten unter sie. Die linke Hand ruht in der Westentasche, die rechte fährt in raschen Wiederholungen über die breite und hochgewölbte Stirn. Er setzt sich und richtet durchbohrende Blicke auf die Einzelnen, als wollte er Jeden fragen: „Wer bist Du und was willst Du hier?“ Es entspinnt sich schnell ein lebhafter Dialog. Heraus müssen Alle aus ihrem Häuschen, denn die Macht des Geistes ergreift sie und führt sie in neue, noch nie von ihnen erschaute Welten. Und welche Ueberraschungen erfahren sie in diesen Welten! Der Eine glaubt zu wissen, und siehe, er erfährt, daß er nichts weiß; der Andere hält etwas auf die Vorzüge seines Geistes, und siehe, er erscheint sich selber schließlich einfältig und der Klarheit und geistigen Schlagfertigkeit in hohem Grade bedürftig; ein Dritter glaubt es in der Tugendhaftigkeit schon einigermaßen weit gebracht zu haben, und siehe, er erschrickt vor der Hoheit des Ideals, das der Meister ihm gezeichnet hat, vor den riesigen Anforderungen, die er an den Erzieher stellt, der sich für den Zögling zu heiligen und ihm vorzuleben habe, wie ein vollkommenes und zu allen guten Werken geschicktes Menschenbild sein müsse. Und da gehen sie schließlich hinaus, die Jünglinge, fast verstört und verwirrt. Alle durchdringt nur ein Gefühl, das der geistigen Armuth nämlich; Alle sind sich bewußt, ein heiliges Land betreten zu haben, in welchem nur die größte Arbeitsamkeit und Strebsamkeit, die vollste Hingabe und Aufopferungsfähigkeit des Gemüths, nur Seelenreinheit und Tugendhaftigkeit zum Ziele führen kann. Und sie fangen an zu ringen „mit Furcht und Zittern, daß sie selig werden“. Der Meister läßt ihnen keine Zeit zu Albernheiten und Nichtsnutzigkeiten. Er erfaßt und disciplinirt sie innerlich und läßt sie äußerlich unbeschränkt ihre Wege gehen, alle klösterliche Eingeschnürtheit, alle äußere despotische Knechtung als unverträglich mit der Bildung zur freien Strebsamkeit und Selbstständigkeit vermeidend. Und wenn sie reifer geworden sind und die ersten praktischen Studien unter seinen Augen und seiner unerbittlichen Kritik gemacht haben, dann führt er sie hinein in die Bildungswerkstätte der Kindheit. Er flößt ihnen Respect ein vor der Menschennatur, die da ist ein Strahl aus der unermeßlichen Tiefe des göttlichen Geistes und dabei eine „Repräsentation der Menschheit in eigenthümlicher Mischung ihrer Elemente“.

Der Mensch ist wie eine Blume im großen Garten Gottes. Er ringt, das, was der Schöpfer in ihn hineinlegte, aus sich heraus zu gestalten. Nichts kann aus ihm „gemacht“ werden; er muß sich entwickeln „nach dem Gesetz, wonach er angetreten, und kann sich nicht entfliehen“. Der Erzieher hat zu wachen, daß keine schädlichen Einflüsse hemmend und störend auf die Werdelust einwirken, welche jedem Kinde innewohnt. Er hat für Licht und Luft zu sorgen; er hat gesunde Nahrungsmittel zu bieten, so zu bieten, daß überall Maß gehalten werde und daß durch die Aufnahme der geistigen Nahrung der Geist selber erstarke und sich lustig entwickle, wie die Pflanze an einem wohlgeschützten und gepflegten, nahrhaften Platze im Garten. Das Lernen in wirkliche geistesnährende und geistesentwickelnde Assimilation zu verwandeln, das ist Methodenkunst; den Zögling dahin zu bringen, daß er selbst denkt und urtheilt, daß er im Stande ist, kräftig und energisch auszuführen, was Vernunft und Gewissen von ihm fordern, sein Gemüth zu richten vom Irdischen und Vergänglichen auf das Ewige und Unvergängliche, den Entschlnß in ihm anzuregen, in dem großen Schulhause, auf der Erde, sich seinem göttlichen Vorbilde so viel als möglich zu nähern, ihn endlich auszustatten mit praktischer Tüchtigkeit für dieses Leben und seinen irdischen Beruf und seine physische Kraft zu wahren und zu stärken – das ist Erziehungskunst. Und in diese Kunst suchte der Meister, der die Meißel vortrefflich zu führen verstand, seine Jünger recht tief einzuweihen. Er brachte sie auf eine Bahn, die der einigermaßen Tüchtige unmöglich wieder verlassen konnte, verurtheilte oder begnadigte sie zu des „Weiterschreitens Qual und Glück“ und lehrte sie ruhelos ringen nach den höchsten Idealen der Menschheit. –

2. Er trägt die Büste Pestalozzi’s.

Der 12. Januar 1846, der hundertste Geburtstag Pestalozzi’s, kam heran. Große Seelen sind auch immer in unbeschränktem Maße dankbar. Er, der Meister, schrieb von den Erfolgen, die er errang, recht wenig auf seine Rechnung und recht viel auf die des schweizerischen Liebeshelden, bei dem alle deutschen Lehrer in die Schule gegangen sind und dessen Werk von Niemand mehr gefördert worden ist, als von unserem Marschall Vorwärts. Wie hätte er es unterlassen können, auf den Geburtstag Pestalozzi’s hinzuweisen und zu einer erhebenden Feier aufzufordern! Wir kamen zusammen im Englischen Hofe in Berlin und saßen an gemeinschaftlicher Tafel. Herrlich ertönte die Musik und kräftige Männerstimmen sangen:

„Meine Brüder, welche Zeit
Hat uns Gott gegeben!
Um das Allerhöchste Streit,
Kampf auf Tod und Leben.
Sollen wir in träger Ruh
Säumig sie verpassen?
Nein, ihr Brüder, immerzu:
Nur nicht locker lassen!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 682. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_682.jpg&oldid=- (Version vom 3.11.2022)