Seite:Die Gartenlaube (1865) 784.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Du aus meinem Herzen, den Gedanken, daß sie als Selbstmörderin geendet! … O Du treues Gemüth, wie tauchst Du in noch schönerem Glanze vor mir auf! O reden Sie,“ fuhr er, gegen Amélie gewendet, fort, „sagen Sie mir Alles! Was ist mit Franzi geschehen? Lebt sie noch? Wo ist sie?“

„Sie lebt,“ begann Amélie wieder, „es gelang mir, sie zum Bewußtsein zurück zu bringen und von meiner geänderten Gesinnung zu überzeugen … für uns Beide bestand die gleiche Nothwendigkeit, vor den Augen der Bekannten zu verschwinden, todt zu sein für die ganze Welt … sie folgte mir. Die Grenze war bald erreicht – von da gab ich meinem Onkel Nachricht, raffte mein Vermögen zusammen und ging mit Franzi nach dem Norden, in eine ferne deutsche Stadt, wo ich sicher sein durfte, ungekannt zu bleiben … Dort gab ich mich ganz ihrer Liebe, ihrer Pflege, ihrer Ausbildung hin – eine Reihe von Jahren begann für mich, worin jeder Tag ein Himmel war und doch die ganze Qual der Hölle in sich trug!“

„Unbegreiflich!“ rief Isidor, „Ich sollte glauben, die Freude, eine solche Tochter wieder gefunden zu haben …“

„Halten Sie ein!“ rief das Fräulein, schmerzlich abwehrend. „Zeigen Sie mir die Seligkeit nicht, der ich entsagen mußte! … Durfte ich ihr das sagen, was sie mir ist? Mußte ich nicht fürchten, daß sie eine Mutter verabscheuen und von sich stoßen würde – eine Mutter, die herzlos genug, das kaum geborene hülflose Wesen in die Welt zu schleudern, herzlos genug, es allem Jammer, allem Elend, allem Frevel der Welt schutzlos preis zu geben … grausam genug, sie mit der Wuth des Hasses aus der letzten Freistatt zu treiben und in den Tod zu stürzen … Wie oft, wenn sie sich in meine Arme schmiegte, wenn sie mich mit Liebkosungen eines unverdienten Dankes überhäufte, wie oft drängte sich da das Wort des Bekenntnisses auf meine Lippen … aber ich sprach es nicht aus, ich drängte es zurück … ihre Freude nicht zu stören, mir selbst zur Buße, setzte ich den Fuß nicht auf die Grenze meines Canaan, wies ich den Wonnebecher von mir, nach dem meine Seele lechzte … Ich habe Franzi als meine Tochter gepflegt, mit aller Sorgfalt und Liebe einer Mutter – daß ich es ihr in Wahrheit bin, weiß sie nicht …“

„Sie weiß es nicht?“ rief Isidor staunend. „Ich bewundere diese Entsagung; daß Sie ihrer fähig waren, versöhnt mich Ihnen … Aber Sie sagten wiederholt, daß Sie Franzi gepflegt … Was ist mit ihr, daß sie der Pflege bedarf?“

„Sei’n Sie gefaßt, das betrübteste Wort zu hören,“ sagte das Fräulein und richtete sich in dem Stuhle auf, in den sie gesunken war. „Franzi’s Gemüth klärte und beruhigte sich mit der Zeit, der Gedanke, ihr Vorhaben gelungen zu wissen, goß Oel auf die stürmenden Wellen … aber nur zu bald zeigte sich, daß ihr Körper zu erliegen begann … sei’s wegen der angebornen Zartheit ihres Wesens, sei’s wegen der über ihr dahingebrausten Stürme, denen sie nicht gewachsen war… Beängstigende Vorboten zeigten sich, Alles was die Kunst der Aerzte vermochte, ward aufgeboten. vergebens, sie schwand und verzehrte sich immer mehr, bald blieb die einzige Hoffnung, daß es einem Aufenthalt in einer mildern südlichen Gegend gelingen werde, das rasche Verwelken um Stunden und Tage aufzuhalten … Dies hat uns wieder in diese Gegenden geführt, dies und der Wunsch der Leidenden, vor ihrem Ende, das sie nahen fühlt, den Mann noch einmal zu sehen, dem ihre ganze verdiente Liebe gehört … Treten Sie in jenes Zimmer, Franzi ist die Sterbende, zu der Sie gerufen sind …“

Isidor stand zögernd, das Tuch vor die Augen gedrückt. Amélie hielt einen Augenblick inne; dann fragte sie: „Sind Sie gefaßt?“

„… Ich bin es …“

„Und ehe Sie eintreten … vergeben Sie auch mir …“

„Das will ich nicht mit Worten thun, die That soll zeigen, daß ich es schon gethan …“

Er reichte ihr die Hand, die sie hastig ergriff, indem sie ihn in das Gemach führte. Wortlos sank er an dem Lager nieder, von welchem eine bleiche hagere Gestalt ihm ebenfalls stumm die abgezehrte bebende Hand entgegenstreckte … da war kein Hoffen, keine Täuschung mehr möglich, in dem einst so lebensfrischen Antlitz hauste schon der Tod und nichts war von früher geblieben, als die dunklen Augen mit ihrem spiegelnden Abgrund von Treue …

„Isidor,“ sagte sie schwach, „o … das ist eine Freud’, die ich kaum mehr gehofft hab’ … jetzt geh’ ich wohlgetröst’ aus der Welt … Können Sie mir verzeihn, daß ich Sie so betrogen hab’?“

„Was hätte ich zu verzeihen,“ erwiderte Isidor innig, „wo jedes Wort von mir nichts ist und sein soll, als Dank … Täglich hab’ ich Deiner als einer Verstorbenen gedacht, mit der ganzen Trauer der Liebe …“

Franzi’s Augen leuchteten noch heller auf; sie wollte sprechen, aber ihre Ermattung war zu groß. Mit innigster Besorgniß beugte das Fräulein sich über die Zurücksinkende, schob leise den Arm unter das Kissen und richtete sie sanft empor. „O wie gut Sie mit mir sind,“ sagte Franzi mit einem Blick voll Dank, „das verdien’ ich ja nit! Ich kann es Ihnen niemals verdanken, was Sie an einem so geringen Madel wie ich Alles thun … Ich hab’ auch,“ setzte sie mit himmlischem Lächeln hinzu, „keine Zeit mehr zum Danken …“

„Sprich nicht so,“ jammerte das Fräulein, „Du weißt nicht, wie Du mein Herz zerreißest …“

„Das möcht’ ich nit,“ flüsterte Franzi, „ich bin ja so glücklich jetzt und möcht’, Sie sollen es auch sein, und Sie … Du auch, Isidor! Jetzt ist es wohl kein Unrecht mehr, wenn ich so zu Dir sag’ … Daß ich das kann, ist eine große Freud’ für mich … fast noch größer, als wie dazumal, wo ich das Kranzel hab’ tragen dürfen an Deinem Ehrentag …“

„Wer weiß,“ sagte Isidor weich, „ob Dir nicht eine noch größere Freude vorbehalten ist! Wie wenn ich Dir Nachricht brächte von den Deinen … wenn ich Deine Mutter Dir zuführen könnte …“

Trotz der Schwäche richtete Franzi sich hastig auf, ein fieberisches Zucken überflog ihren Körper. „Meine Mutter …“ stammelte sie, „… sie lebt … darf ich sie etwa gar sehen?“

„Sie lebt – Du darfst sie sehen, wenn Du Dich stark genug fühlst …“

„Wo … wo ist sie …“ rief sie fieberisch und die längst verblichenen Rosen ihrer Wangen erblühten noch einmal.

„Hier!“ erwiderte Isidor, auf Amélie deutend, welche am Bette zusammenknickte und vor Schluchzen nichts zu stammeln vermochte als „… Vergebung …“

„Meine Mutter …“ stammelte die Sterbende, „Sie … Du? O, wenn das wahr ist, warum nimmst Du mich nit an Dein Herz … daß ich sagen kann, ich bin am Herzen meiner Mutter gelegen … nur ein einzig’s Mal, wenn’s auch das letzte Mal ist …“

Amélie zog sie an die Brust. „Mein Kind …“ weinte sie, „mein gutes, liebes, mein unglückliches Kind!“

„Mutter … mein’ Mutter,“ sagte Franzi leise und wie für sich hin, als horche sie der Süßigkeit des Tones in dem noch nie vernommenen Worte; dann bemeisterte sich ihrer vollends die Schwäche. Die Anspannung war zu groß gewesen für das zarte, in seinen tiefsten Fasern erschütterte Leben; sie haschte nach Isidor’s und Amélie’s Hand … „Droben … bei unserm Herrgott … mein’ Mutter … mein Bruder …“ Die Stimme brach, aber aus den Augen quoll ein letzter Strahl unendlicher Liebe, aus ihm schwebte die schöne Seele von hinnen!

– – – Isidor kehrte gebeugt und doch innerlich gehoben an den Ort seines Berufes zurück, dem er fortan mit verdoppeltem Eifer gehörte. Nach einiger Zeit kam das Fräulein in’s Pfarrhaus, ein bescheidener und stiller Gast, der genug Staunen und doch wieder Genugthuung hervorrief, daß es dem allgeliebten Manne gelungen, auch dieses feindlich widerstrebende Herz zu versöhnen. Ihr Vermögen wendete sie der Schule zu.

Ihr Geheimniß blieb mit Franzi begraben.

Isidor ward ein Mann, von dem auf die Umgebung Segen träufte, wie von einem Palmenbaum; er durchmaß das Leben bis an die äußersten Grenzen und hatte die Freude, die Secundiz, das fünfzigjährige Jubelfest seiner Priesterweihe, an demselben Altare in der Heimath zu feiern. Von den Gästen, die ihm damals so fröhlich das Geleit gegeben, waren die meisten schon dahin; auch der Moosrainer schlief schon lange neben seiner Alten, die vor ihm gestorben war … „Ich glaub’,“ sagte er die Augen wischend, wenn er ihrer gedachte, „sie hat sich nur deswegen so von mir weggetummelt, daß sie bei der alten Gewohnheit bleibt und ja nicht zu spät kommt …“

Wenige Tage nach dem Jubelfest blieb Isidor’s Zimmer ungewöhnlich lange verschlossen; als man eintrat, saß er in seinem Lehnstuhl mit auf die Brust gesenktem Haupte und ruhigen Zügen, als ob er schliefe; auf dem Tische lag die Bibel aufgeschlagen, im Lesen war er dahingegangen zu denen, die ihn erwarteten.

Es ist lange her, daß dies geschehen, im Volke aber lebt sein Andenken fort und Mancher, der damals ein Kind war, erzählt weiter, was er von ihm gehört, und zuckt die Achseln, wenn man die spätern Pfarrer lobt, und sagt: „Alles recht – ich nehm’ ihnen nichts, aber einen solchen Herrn kriegen wir halt doch nit wieder, wie unsern Dorfcaplan!“





Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 784. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_784.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2022)