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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Aufsicht über das ganze Gebiet von Tripolis bis zu der Grenze von Marokko. Man hat natürlich, wie die große Nation es nicht anders kann, Reglements über Reglements erlassen, System nach System abgenützt, und das Resultat ist jetzt, daß trotz der französischen Herrschaft der ganze Erwerbszweig, Fischerei, Handel und Bearbeitung, in den Händen der Italiener ist. Die Korallinen kommen mit den Frühlingstagen von Torre del Greco bei Neapel, von Sicilien, Sardinien und Genua, stellen sich an verschiedenen Küstenplätzen ein, bezahlen die Abgaben und Kosten, die sich für eine große Koralline auf etwa vierhundertfünfzig Francs belaufen, und fischen bis zum Eintritt der Herbststürme. Die kleinen Schifflein liefern täglich, die großen alle vierzehn Tage oder monatlich ihren Ertrag an den Rheder ab, der ebenfalls ein Italiener ist, oft mit seinem eigenen Boote nur für die Saison kommt, oft aber auch in Algerien, namentlich in Bona und la Calle ansässig ist. Bei diesem wird das Korall sortirt, in Kisten verpackt und nach Neapel, Livorno oder Genua spedirt, wo es bearbeitet und in den Handel gebracht wird. Nach den Berechnungen von Lacaze-Duthiers kostet die erste Ausrüstung einer großen Koralline mit zwölf Mann Besatzung etwa viertausendfünfhundert Francs, während die jährlich wiederkehrenden Kosten für Bezahlung und Ernährung der Mannschaft, Ersatz der Geräthschaften, Abgaben etc. etwa eilftausend Francs betragen mögen. Man rechnet, daß eine große Koralline mit fünf Centnern Korall etwa auf ihre Kosten kommt, mit sechs Centnern oder dreihundert Kilos aber, je nach der Qualität des Koralls, zwei- bis dreitausend Francs Gewinn abwirft. Nach den Zeitungsnotizen sind vorm Jahre vierhundert Korallinen von den italienischen Küsten abgegangen; rechnen wir, daß diese dreihundert großen Schiffen entsprechen, so müssen also eintausendfünfhundert Centner Korall im Jahre 1865 gefischt worden sein, wenn die Rheder nur auf ihre Kosten kommen sollen, und eintausendachthundert Centner, wenn einiger Gewinnst bleiben soll. Unserer Berechnung zufolge würden also fast viertausend Korallenfischer alljährlich von Italien nach Algerien segeln, um dort den Grund des Meeres auszubeuten. Der mittlere Verdienst eines Mannes, den er fast vollständig zurückbringt – denn für den Trunk am Lande und sonstige kleine Ausgaben sorgt er meistens durch einige Korallenstücke, die er dem Patron wegstipitzt – beträgt dreihundertachtzig Francs für die Saison von sechs Monaten. Der Arbeitslohn dieser Mannschaft beläuft sich also etwa auf anderthalb Millionen Francs, die der Bevölkerung der italienischen Küstenstrecken zu Gute kommen.




Eine Herberge der Geächteten.


Es ist ein eigener poetischer Reiz, der trotz alles Elends und Kummers der Verbannung Diejenigen umschwebt, welche ihrer Gesinnungen wegen ihr Vaterland fliehen müssen. Solcher Unglücklichen und doch um ihres Leidens für eine gerechte Sache willen Beneidenswerthen hat seit bald tausend Jahren kein Land mehr gesehen, als die kleine Schweiz, die es von jeher nicht nur als eine Pflicht betrachtete, sondern als ein Recht förmlich in Anspruch nahm, politische Flüchtlinge zu beherbergen und gegen Verfolgungen zu schützen. Erst in neuester Zeit hat ihr in dieser Beziehung Amerika, und theilweise auch England, den Rang abgelaufen, während die monarchischen Staaten des europäischen Festlandes wohl schon viele Flüchtlinge geliefert, aber noch wenig oder keine solche aufgenommen haben – Beides aus sehr naheliegenden Gründen. Namentlich theilen Deutschland und Rußland sich in den wenig beneidenswerthen Ruhm, niemals einem politischen Flüchtling Asyl gewährt zu haben. Es ist gewiß nicht sehr übertrieben, wenn wir sagen, daß die Geschichte der in der Schweiz Zuflucht suchenden politischen Verbannten eine kleine Weltgeschichte bilden würde; denn in einer solchen Flüchtlingsgeschichte müßten nothwendig alle irgendwie wichtigen politischen Umwälzungen der europäischen Staaten Erwähnung finden. Einige Beispiele sollen dies über allen Zweifel erheben.

Der erste Flüchtling von Bedeutung, den die Schweiz aufnahm, war der berühmte italienische Reformator und Märtyrer Arnold von Brescia. Wegen seines Eiferns gegen die Fäulniß der Kirche auf einem Concil in Rom als Ketzer verdammt, floh er im Jahre 1141 über die Alpen, wurde in Zürich aufgenommen und beschützt und fand mit seinen hellsinnigen Lehren großen Anklang in Stadt und Landschaft. Als er aber nach vier Jahren die Rückkehr in sein Vaterland wagen zu dürfen glaubte und in Rom eine Republik errichtete, befleckte der große Friedrich Barbarossa, vom Papste zu Hülfe gerufen, seinen Ruhm dadurch, daß er den Mann des Volkes verbrennen und seine Asche in die Tiber werfen ließ. Wahrlich, wenn der vielbelobte Hohenstaufe nach der Volkssage wieder aus dem Kyffhäuser erstünde, er würde sicherlich ganz anders handeln, als gutmüthige Schwärmer sich denken. Die „Gartenlaube“ würde er jedenfalls sofort vernichten! Und vom Standpunkte mittelalterlichen Kaiserwahnes hätte er ganz Recht!

In der Reformationsperiode empfing die Schweiz zwei Flüchtlinge von sehr verschiedenem Charakter, obschon von demselben Vornamen. Beide gehörten dem deutschen Adel an, nur war der Eine ein durch Aussaugung des Volkes reichgewordener Fürst, der Andere ein durch die Verfolgungen von Seiten Vornehmer arm gewordener Ritter. An Geist war dagegen der Fürst sehr arm, der Ritter sehr reich. Es waren, um uns kurz zu fassen: Herzog Ulrich von Württemberg, der sich umsonst anstrengte, mit Hülfe der Schweizer sein Land wieder zu erobern, und Ulrich von Hutten, dessen kranker Leib und müder Geist auf der lieblichen Insel Ufenau im Zürchersee eine Ruhestätte fanden. Den beiden Extremen, deren Aufenthalt in der Schweiz eine besondere Darstellung reichlich beschäftigen könnte, folgten die Opfer der französischen Hugenottenkriege, unter ihnen der von der katholischen Inquisition seines Vaterlandes vertriebene und in seinem Asyle Genf selbst zum protestantischen Inquisitor gewordene dämonische Charakter des Reformators Calvin. Fernere Glaubensgenossen dieser Flüchtlinge trieb unter Ludwig des Vierzehnten eiserner und blutiger Despotie die Aufhebung des Edicts von Nantes nach Helvetiens Gauen. Als dann in Frankreich die revolutionären Ideen aufzuflammen begannen, mußte auch ihr größter Prophet auf der Insel eines Schweizersees, wenn auch nicht sterben, doch das Brod der Verbannung essen, und noch jetzt ist J. J. Rousseau’s Zimmer auf der St. Peters-Insel im Bieler-See der Wallfahrtsort aller Bewunderer jenes Apostels der Demokratie. Wie er, der die Grundsätze der französischen Revolution in seinem „Contrat Social“ zuerst ausgesprochen, ein Schweizer (Genfer), so war dies auch der, welcher umsonst den Ausbruch des Vulcans zu dämmen suchte, der Finanzminister Necker; ja einer der blutigsten Schreckensmänner der französischen Revolution, Marat, war ebenfalls Schweizer, er stammte aus dem jetzigen Canton Neuenburg. Manche Verfolgte der Schreckenszeit, Märtyrer des Königthums, Märtyrer der Freiheit und Märtyrer der Anarchie (unter ihnen nicht zu vergessen der Sohn eines berüchtigten Schreckensmannes, des proteusartigen Egalité, Louis Philipp, der spätere König), flohen nach der Festung zwischen Alpen und Jura, und hart an ihren Grenzen, die ihm leider zu erreichen nicht vergönnt war, starb im dumpfen Kerker des Schlosses Joux der Neger Toussaint Louverture, der Hayti zu befreien versucht hatte.

Während aber im Westen Europas ein Volk seinen Monarchen tödtete, wurde im Osten ein Volk gemordet. Der edelste Held desselben, der ahnend „Finis Poloniae“ gerufen, fand bei Solothurn ein Asyl, und zu Kosciuszko’s Grab wallen noch fort und fort trauernde Söhne dieses unglücklichsten der Völker. Die Zahl der Flüchtlinge endlich, welche die Revolutionen des gegenwärtigen Jahrhunderts nach der Schweiz getrieben, ist Legion; wer zählt die Völker, nennt die Namen? Deutsche, Franzosen, Italiener, Spanier, Griechen, Polen, Russen, Ungarn etc., auch ein Schwede, nur einer, aber ein König. Und ein anderer dieser Flüchtlinge lenkt jetzt die europäische Politik!

Gelangen wir endlich zum Gegenstande, der uns heute speciell beschäftigen soll. Die englische Revolution ist eine eigenthümliche Erscheinung; mir kommt sie vor wie ein Steinrelief, während die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_042.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)