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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


und wird von etwa viertausend Einwohnern bewohnt, die bei dem regen Verkehr, den die Eisenbahnen hervorbringen, hauptsächlich von Handel und Industrie sich nähren. Diesem regen Verkehr verdankte das Städtchen sein schnelles Emporblühen und die fast fabelhafte Steigerung des Grundwertes. Von Polizei ist in solchen amerikanischen Kleinstädten nicht die Rede, und der Bürger ist hier lediglich auf seinen eigenen Schutz angewiesen. Fallen nun in einer solchen Stadt viele Gewalttätigkeiten, viel Diebstähle und Räubereien vor, sieht der Wohlhabende sein Eigenthum nicht gesichert oder gar sein Leben gefährdet, so verläßt er den Ort und sucht sich eine neue bessere Heimath, wodurch natürlich der geschäftliche Verkehr leidet und der Grund und Boden mehr und mehr entwertet wird. Dies stellte sich auch seit einiger Zeit in Seymour heraus. Seit Jahren nämlich hatte ein Diebsgesindel sich dies Städtchen zum Mittelpunkt seiner Operationen erkoren, weil bei dem immensen Verkehr auf amerikanischen Eisenbahnen hier fast zu jeder Stunde der Nacht Frachtzüge nach allen vier Himmelsgegenden gehen, vermittelst deren der Raub so überaus leicht in Sicherheit zu bringen war. Die Verbrechen gegen das Eigenthum mehrten sich in furchtbar steigender Zahl. Privathäuser und Läden wurden geplündert, Reisende auf der Landstraße angefallen und beraubt, und selbst vor dem Morde bebte die Bande nicht zurück, wenn es ihre Sicherheit galt. Ja, bald entdeckte man, daß dies Raubsystem sich über ganz Jackson und die angrenzenden Counties erstrecke, und daß vor Allen die Familie Reno, welche zwei Meilen von Seymour eine schöne Farm besitzt und in wenigen Jahren sich zu sehr bedeutender Wohlhabenheit emporgeschwungen hat, den Mittelpunkt, gleichsam das leitende Organ einer weitverzweigten Räuberbande bilde. Ein Geheimpolicist will sogar, natürlich verkleidet, einer Versammlung der ganzen Bande in Fort Wayne im Staate Indiana beigewohnt haben und Ohrenzeuge von dem feierlichen Schwure des ganzen Gesindels gewesen sein: „falls Einem aus ihrer Mitte nur ein Haar gekrümmt werde, ganz Seymour in Asche zu legen“. Ein Sprößling der saubern Reno’schen Familie beraubte bald darauf eine feuerfeste Geldspinde. Ein Mulatte, Grant Wilson, konnte und sollte als Belastungszeuge gegen die Räuber auftreten. Man bot ihm tausend Dollars, wenn er den Staat verlassen wolle. Als er auf diesen Vorschlag nicht einging, ward er bald darauf zwischen seinem Hause und Seymour erschossen auf der Landstraße gefunden, und Reno, gegen den nun kein Zeuge auftreten konnte, ging straffrei aus.

Ein anderer Mann Namens Mac Kinney, der bei einer anderen Räuberei als ein gefährlicher Zeuge erscheinen mußte, ward um mitternächtliche Zeit durch Anklopfen geweckt und bei Eröffnung seiner Hausthür niedergeschossen. In einem Hotel in Seymour verschwand ein Reisender, der viel Geld mit sich führte. Erst nach acht Monaten spülte der benachbarte Fluß seine Leiche an’s Ufer. Ja, wenn ein Mitglied der Bande eingefangen war und gerichtlich processirt wurde, so leisteten seine Complicen jede vom Gericht geforderte Bürgschaft, und es kam auf freien Fuß.

Der Proceß selber lag natürlich als Criminalsache dem Verdict der Geschworenen ob, und die Jury, theils erkauft, theils durch Todesdrohungen eingeschüchtert, konnte sich in ihrem Wahrspruch dann nicht einigen, was natürlich eine Verurtheilung des Angeklagten unmöglich machte. Es kann sogar als ausgemachte Sache angenommen werden, daß die Bande, die ja über enorme Geldsummen zu verfügen hatte, es dahin zu bringen wußte, daß durch weitgehende Kniffe und Pfiffe Einer oder Einige der Ihrigen selber in die Jury gewählt wurden, was selbstverständlich jederzeit die Freisprechung des Inculpaten zur Folge hatte. Viele, die bestohlen oder auf offener Landstraße beraubt worden waren, schwiegen und verschmerzten ihren Verlust, um nicht Haus und Hof durch Feuer oder gar das Leben durch Mörderhand zu verlieren.

Unter solchen Umständen fühlte die Bande sich so sicher, daß sie sich auch an größere und kühnere Unternehmungen wagte. Hier zu Lande werden Geldsendungen vorzugsweise durch sogenannte Expreßcompagnieen besorgt, die bei jedem Eisenbahnzuge zum Transport der ihnen übergebenen Güter ihre eigenen Wagen haben, in denen sich Agenten befinden, die auf jeder Station die fälligen Sachen aushändigen und andere annehmen. Auf diese Geld- und Werthsendungen hatte es nun die immer dreister gewordene Bande ganz besonders abgesehen, und schon vor einiger Zeit war der Expreßwagen um Summen von achttausend und dreißigtausend Dollars beraubt worden. Bis zu welcher Verwegenheit aber die Räuber schritten ersehen die geehrten Leser aus Folgendem:

Am 22. Mai 1868 Abends 9 Uhr ging ein Train bestehend aus der Locomotive, dem Tender, einem Expreß- und zwei Passagierwagen, von Jeffersonville nach Seymour ab. Als der Zug eine vereinsamte Station Marshfield erreichte, wo Wasser eingenommen werden mußte, stieg der Heizer an der einen Seite aus, um den Wasserschlauch heranzuziehen während der Locomotivführer sich auf die andere Seite begab, um die Maschine einzuölen. Sofort wurde ihm die Fackel aus der Hand geschlagen und unter dem Schutze der Dunkelheit bemächtigten sich vier Räuber des Zuges, lösten die Verbindung mit den beiden Passagierwagen und fuhren mit Zurücklassung derselben mit der Locomotive und dem Expreßwagen lustig von dannen. Einige Meilen weiter, als sie sich in Sicherheit wußten, drangen sie in den Expreßwagen, schlugen den Agenten Thomas Harkins so lange, bis sie ihn für todt hielten, erbrachen die eiserne Geldkiste, entwendeten sechsundneunzigtausend Dollars in Regierungsbonds (Staatsschuldscheinen) und ließen den Train eine halbe Meile vor Seymour ruhig stehen.

Erst nach längeren Wochen wurde ein gewisser Cameron, als er in Syracuse im Staate Newyork einige der geraubten Bonds zum Verkauf anbot, verhaftet, und auf seine Betheurung, die qu. Papiere von Franz Reno und Charles Anderson gekauft zu haben, wurden diese Beiden in Sandwich, Canada, verhaftet und dort in’s Gefängniß gebracht, während die Gebrüder Simeon und Wilhelm Reno in Indiana eingefangen, von dem wieder genesenen Harkins als Theilnehmer an der Beraubung identificirt und dem Grafschafts-Gefängnisse zu New-Albany, Indiana, überliefert wurden.

Während nun von Seiten der Regierung der Vereinigten Staaten mit der Regierung von Canada wegen Auslieferung der beiden Arrestanten Franz Reno und Anderson langstielige Unterhandlungen geführt wurden, wollten auch die übrigen Mitglieder der Bande nicht unthätig sein, sannen vielmehr auf neue großartige Operationen. Diesmal hatten sie es auf die Beraubung des Expreßwagens der Ohio-Mississippi-Bahn abgesehen, die von Cincinnati nach St. Louis geht. Bei dieser Bahn war ein gewisser James Flanders theils als Frachtconducteur, theils auch als Locomotivführer angestellt, und da er auf irgend eine Weise eine leise Ahnung von einem beabsichtigten Raubanfalle bekommen hatte, so entzog er sich mit Bewilligung seiner Vorgesetzten auf einige Zeit seinem Dienste und begab sich nach Seymour, dem Hauptquartier der Räuberbande. Hier trieb er sich einige Zeit, dem Anscheine nach zwecklos, herum, trug einen hohen Grad von Ruchlosigkeit zur Schau, schloß sich dem herumbummelnden Gesindel an, bezahlte freigebig dessen Zechen und Saufgelage und erfuhr von den bald erworbenen Freunden Elliott, Sparks, Eliston, Moore, Rofeberry und Jarrell im Vertrauen, daß diese am 10. Juli den Morgens um 3 Uhr von St. Louis abgehenden Zug bei Brownstown, 10 Meilen westlich von Seymour, überfallen und plündern wollten. Diese Entdeckung theilte er schleunigst der Expreßcompagnie mit, die sofort in ihrem Wagen eine starke Wache versteckte, und er selber, Flanders, übernahm an diesem Tage wieder die Führung der Locomotive.

In Brownstown angekommen, hielt er den Zug an und begann, anscheinend ganz gleichgültig, die gewohnte Besichtigung der Locomotive. Wie erwartet, sah er sich dabei plötzlich von Banditen umringt, die ihn nicht sogleich wiedererkannten, die ihm geladene Revolver vorhielten und ihn bei dem geringsten Laute zu erschießen drohten. Er ergab sich auf Gnade und Ungnade und bat nur, um einem Unglück vorzubeugen, den Dampfkessel mit Wasser versorgen zu dürfen. Die Räuber bestiegen nun den Zug und als sie sich, etwa drei Meilen von Brownstown entfernt, in Sicherheit glaubten, warfen sie den Heizer über Bord und begaben sich zur Vollendung ihres Planes in den Expreßwagen. Dort aber fanden sie hinter den aufgehäufte Frachtgegenständen eine bewaffnete Mannschaft, mit der nun ein lebhafter Kampf begann. Von beiden Seiten knatterten die Revolver und der Ausgang des Kampfes schien zweifelhaft. Da auf einmal sank Elliott, der Führer der Bande, von einer Kugel getroffen, zu Boden und mit seinem Falle ergriffen die anderen Raubgesellen eiligst die Flucht. Eliston und Jarrell wurden aber bald nach

dem Attentat zur Haft gebracht und nebst dem verwundeten Elliott

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_377.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)