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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

ihm gerecht geworden. In allen deutschen Anstalten bildet die Lautsprache die Grundlage des Unterrichts und jetzt, hundert Jahre nachdem Samuel Heinicke damit begonnen, fangen auch Franzosen und Engländer an, die deutsche (Heinicke’sche) Unterrichtsweise als die richtige und naturgemäße zu erkennen und anzunehmen. (Vgl. Gartenlaube 1869, Nr. 3, S. 42.[WS 1]) Frankreich hat dem Abbé de l’Epée ein prächtiges Denkmal zu Versailles errichtet, während in Deutschland Samuel Heinicke nahe daran war, ein vergessener Mann zu werden. Gewiß wird aber nun das deutsche Volk diesem echten Menschenfreunde ein treues Gedächtniß bewahren. An der Leipziger Taubstummenanstalt wirkt heute noch segensreich eine Enkelin Heinicke’s als Mutter der Taubstummen. Es ist dies die Gattin des gegenwärtigen Directors, Frau Elisabeth Eichler. Das beigegebene Portrait ist nach einem im Besitz dieser Familie befindlichen Oelgemälde gefertigt worden.

Ernst Stötzner. 




Aus den politischen Salons des neuen Italiens.
Von Emil Pirazzi.
1. Die Frau des Märtyrers.
(Schluß.)


Unter den Reliquien des Kästchens fanden sich auch noch zwei Exemplare einer vortrefflichen Photographie in Visitenkartenformat, welche den großen Condottiere in jener classischen Freischaarentracht darstellte, in der er beide Sicilien dem jungen Königreiche Italien hinzugewann. Als er am 7. September 1860 in Neapel als Sieger eingezogen war, schrieb er dem König: „Sende mir Pallavicino-Trivulzio als Statthalter!“ Und der König sandte Pallavicino, und dieser waltete, an Königs Statt und zugleich wiederum wohl als ein Mittler in schwieriger Situation zwischen diesem und dem factischen Sieger, Garibaldi, eine Zeit lang über dem schönsten Stück dieser Erde. Freilich, um die Neapolitaner zu regieren, dazu gehören nüchternere, härtere und kühlere Naturen als so ideelle Politiker wie die Garibaldi und Pallavicino. Als die Marchesa Anna nun Frau Präfectin von Neapel war, da mußte ihr Garibaldino, es half kein Widerstreben, dem Photographen in jenem Gewande sitzen, in welchem er zu Marsala gelandet war, und kurze Zeit darauf in Neapel einen Siegeseinzug gehalten, wie ihn kein Triumphator des alten Rom nur entfernt so umjauchzt über das Forum hinauf zum Capitol genommen hatte.

Auf diese Art entstand ein kleines Historienbild von größtem Inhalt, und die Marchesa hatte die Güte, mir von ihren letzten beiden Exemplaren desselben eines zugleich mit ihrem eigenen Bilde zum Andenken zu verehren, und da sitzen sich denn in meinem Album als dessen werthester Schmuck die beiden verehrten Gestalten gegenüber: der Held und seine Freundin! Jener sitzt fast etwas unbeholfen und linkisch da, aber um so mehr macht das Bild den Eindruck ungekünstelter Wahrheit, da ist Alles Natur und Nichts akademische Pose. Unter seinem ein ganz klein wenig zur Seite gerückten runden Filzhut mit nach oben umgebogenem Rand („Turnerhut“ hieß er früher bei uns), blinzelt Garibaldi den Beschauer aus dem Bildchen fast etwas scheu und mürrisch an, daß er da sich so ruhig hinsetzen und dem Photographen in Santa Lucia Nr. 28 stillhalten muß, wo es in Neapel jetzt so viel Wichtigeres für ihn zu thun giebt. Die beiden knorrigen Hände, gleich gewohnt, das Schwert wie den Pflug zu führen, auf den Oberschenkel gestemmt, sitzt er so unmalerisch als möglich da, die Beine in weite, helle Hosen gesteckt, den linken Fuß etwas einwärts gebogen; der Pallasch hängt ihm tief und nachlässig zur Seite herab, gerade als wüßte er gar Nichts damit anzufangen: und wie hat er ihn geführt! Freilich, ein Salonofficier wüßte ihn coquetter zu tragen! Der Oberkörper zeigt sich mit dunkler Blouse von dickem carrirtem Stoff bekleidet (vermuthlich die famose „rothe“), über die jedoch, so daß von ihr nur die Aermel sichtbar werden, noch ein weites, mantelartiges, um den Hals in einem Kragen anschließendes, aber ärmelloses Obergewand von hellem Zeug geworfen, das auf der Brust in Form eines dreieckigen, mit der Spitze nach unten auslaufenden Latzes zugeknöpft ist – vielleicht eine Reminiszenz aus Peru oder den Pampas der Laplatastaaten. Lose um die Schultern geschlungen und vorn geknüpft endlich noch das bekannte charakteristische Tuch, welches Garibaldi auf seinen Freischaarenzügen stets, und zwar so zu tragen pflegte, daß es im Dreieck auf den Rücken herabfiel, gerade wie bei uns ein Dienstmädchen oder eine Bauersfrau ihr Umknüpftuch.

So sitzt er da, mit dem hellfarbenen Ueberwurf und dem umgeschlungenen Tuche, genau wie Einer, der – man vergebe, aber der Vergleich ist durchaus zutreffend – eben barbirt werden soll –; so sitzt er da, schlicht und einfach, der große Tribun mit dem Löwengesicht, der Vertheidiger Roms, der Guerillasführer von den Alpen, der Eroberer beider Sicilien, der Kämpfer von Volturno, der Cincinnatus von Caprera!

Mit gesteigerten Empfindungen ganz besonderer Art blickte ich in diesen Räumen um, hier, wo ich mich so recht eigentlich „hinter den Coulissen“ befand, die schon so manches historische Ereigniß vorbereiten sahen, das sich nachher draußen auf der Weltbühne abspielte und die kosmopolitische Zuschauerschaft, je nachdem, mit Zittern oder mit Bewunderung erfüllte! Denn hier, innerhalb dieser Wände, unter dem Schutze des hochgeachteten Namens und Hauses der Marchesa Pallavicino, war es unter Anderm ja auch gewesen, daß die glänzendste und folgenreichste Waffenthat Garibaldi’s, der Argonautenzug nach Sicilien, zu einem großen Theile vorbereitet und dazu die letzten Dispositionen getroffen wurden; – von diesem Hause aus ging Garibaldi zwei Jahre vorher, im Frühjahr 1860, direct nach Genua ab zur nächtlichen Ausfahrt der Eintausend nach Marsala! Man ermesse, mit welchen Gefühlen diese Frau ihren Liebling und Schützling zu jenem maßlos kühnen Abenteuer entlassen mußte, das bestimmt war, der Karte Europa’s in so kurzer Zeit eine so durchaus veränderte Gestalt zu geben!

Auf meine Frage an sie: „Ob denn die Regierung von der beabsichtigten Expedition gewußt habe?“ wurde mir mit gedämpfter Stimme die Antwort: „Ja, sie wußte darum!“ Was die Marchesa damals leise sagte, – heute, nach acht verhängnißvollen Jahren, die so viele Schleier gelüftet haben, darf man es ja wohl laut sagen, zumal auch dies ja längst kein eigentliches Geheimniß mehr ist! Die Genuesischen Hafenbehörden hatten den Auftrag von der Regierung, officiell auf die Freischärler zu fahnden, officiös aber ihre Flotille durchschlüpfen zu lassen. Warum auch nicht? Den Preis der siegreichen Expedition durfte man sich ja nicht entgehen lassen, – die gescheiterte aber mußte man desavouiren können. Es war ein Zufall, ein Mißverständniß, daß die Garibaldi’schen Boote entkamen, wie es nachher ja auch nur ein Zufall war, daß sich zwischen diese und die neapolitanischen Kriegsschiffe just im Momente der Landung in Sicilien eine englische Fregatte dergestalt ungeschickt quer mitten in den Weg legte, daß die ersteren ganz und gar am Feuern verhindert waren, und somit die Garibaldianer unter der Deckung der englischen Flagge ihre Ausschiffung bewerkstelligen konnten! Man kennt ja diese historischen „Zufälle“ und „Mißverständnisse“!..[1]

In denselben Räumen fand später auch, und ebenfalls durch die Marchesa eingeleitet und herbeigeführt, die berühmte Versöhnungsscene zwischen Giuseppe Garibaldi und Enrico Cialdini statt. Marschall Cialdini, wohl die bedeutendste militärische Kraft, und daher auch „das Schwert Italiens“ zubenannt, hatte bekanntlich einen scharfen Absagebrief an Garibaldi geschrieben, und ihm darin vorgeworfen, daß er sich überhebe, sich über den König stelle, einen Staat im Staate, eine Dictatur neben der gesetzlichen Regierung bilde, in seiner rothen Blouse in’s Parlament komme etc. Dem in strenger soldatischer Disciplin geschulten Geiste des tapfern

  1. Eine eigenthümliche Ironie des Zufalls war es auch, daß es bei Garibaldi’s im August 1862 unternommenem Zuge auf Rom gerade, wie man sich erinnern wird, ein Oberst Pallavicino sein mußte, welcher als Führer des ihm nachfolgenden piemontesischen Corps ihn in den Schluchten von Aspromonte zum Gefangenen machte: – wohl ein entfernter Verwandter der Marchesa.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Nr. 42.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_088.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)