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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Diese Einrichtung, welche durch die beschränkten Fähigkeiten unseres Geistes bedingt ist, dieser Mechanismus, welcher so segensreich für uns wirkt, so lange er im Dienste und für die Zwecke unseres Geistes wirkt, gestaltet sich jedoch für uns zu einer entsetzlichen Qual, wenn er von seiner Selbstständigkeit den falschen Gebrauch macht, wenn er das, was ihm im Traume gestattet ist, auch im Wachen übt, indem er unserem Bewußtsein seine eigenen nicht durch die Eindrücke der Sinne empfangenen Bilder überliefert. Diese Möglichkeit braucht nur angedeutet zu werden, um uns zurück zu drängen von einer genaueren Betrachtung dieser bald ergebenen und bald gewaltthätigen Organe. Welcher gesunde Mensch möchte hier nicht die Unbefangenheit dem Wissen vorziehen?

Und doch, wie viel des Unheimlichen diese Einrichtungen bergen, man kann sich mit ihnen versöhnen, denn unbestritten ohne diese angeborenen Automaten wären wir noch hülfloser, als wir sind; vielleicht giebt es kein anderes Mittel, um unsrer Ohnmacht zu begegnen, und so mußten wir das Böse mit dem Guten in den Kauf nehmen. Aber wie nun, wenn das, was unsrem Ich zur Seite steht, gar nicht unser Eigenthum wäre, wenn auch dieser beste Theil unseres Leibes dem unbeschränkten Communismus der organischen Masse verfiele, wenn wir fänden, daß nicht blos der Keim des zukünftigen Baumes, sondern auch der gehorsame Muskel, der Botschaft bringende Nerv, das seelenvolle Auge, im lebenden Leibe den Parasiten nährt, und wenn wir gar gewahren, daß die Natur dem blinden, hülflosen Wurm den Weg mit der wunderbarsten Sorgfalt gebahnt und dessen ganzes Sein gerade so wie das unsere auf die Organe gebaut hat, die wir seit Jahren als rechtmäßiges Eigenthum beanspruchen? Wie verrucht ist diese Doppelzüngigkeit, wie schauderhaft ist eine Zweckmäßigkeit, der die Achtung vor den eigenen Werken fehlt, die das Höchste, was sie erzeugt, dem niedrigsten ihrer Geschöpfe vorwirft!

(Schluß folgt.)




Pavillon Nummer Zwölf.
Von Ludwig Kalisch.

Die Stadt Paris ist ein Ungeheuer, deren fünfundfünfzig Eingänge die Rachen bilden, mit denen es die an’s Fabelhafte grenzenden Vorräthe verschlingt. Von allen Enden der Umgegend, der Provinzen und des entferntesten Auslandes werden der Stadt täglich die Nahrungsmittel zugeführt, und dennoch hat sie niemals Ueberfluß. Es fallen in Paris jeden Tag achthundert Ochsen, fünfhundert Kälber, an vierhundert Dutzend Hammel und ich weiß nicht wie viel hundert Schweine deren Bewohnern zum Opfer, und nur die Statistiker können sagen, wie viel Geflügel, wie viel Fische, wie viel Wildpret jahraus, jahrein die Tafelfreuden der Lutetia vermehren. Die Statistiker mögen auch sagen, wie viel Gänseleber- und andere Pasteten, wie viel Schinken und Würste, wie viel Häringe und Stockfische von Sonnenaufgang bis Mitternacht innerhalb der Pariser Festungsmauern der Verdauung überliefert werden, und wie viel Saatfelder und Gemüsegärten ihren Ertrag hergeben müssen, um die Unersättlichkeit der Hauptstadt Frankreichs nur auf eine Woche hin zu befriedigen. Die Statistiker können aber gewiß nicht sagen, wie viel Sterbliche trotz aller ungeheuren Vorräthe in Paris darben müssen und wie sich die Zahl der Glücklichen, die sich aus Ueberfluß den Magen verderben, zu der Zahl der Unglücklichen verhält, deren Magen aus Mangel an Beschäftigung zu Grunde geht. Dem sei aber wie ihm wolle, es läßt sich leicht denken, daß für die vielen Mundvorräthe, die täglich nach Paris kommen, ein Mittelpunkt, ein Entrepôt, bestehen müsse, von welchem aus dieselben, durch den Detailhandel auf die kleineren Märkte gebracht, nach den verschiedensten Stadtteilen gelangen können.

Diesen Mittelpunkt bilden die Hallen.

Die Hallen befinden sich auf dem Marché des Innocents. Sie sind, wie die Eisenbahnhöfe, in Gußeisen aufgeführt und bestehen aus zwölf großen Abtheilungen, Pavillons genannt, von denen jede ihre Specialität hat. Es giebt Fleisch-, Fisch-, Butter- und Gemüsepavillons. Außerdem werden aber auch auf dem Platze vor den Hallen sehr viele Vegetabilien unter freiem Himmel verkauft. Jedem Verkäufer ist in den Hallen sein numerirter Platz angewiesen, und die Einrichtung datirt von der Regierung Franz des Ersten, der, von der großen Wichtigkeit der Pariser Speisemärkte durchdrungen, denselben seine besondere Aufmerksamkeit schenkte.

Das Leben und Treiben auf diesem Centralmarkte erleidet nur eine sehr kurze Unterbrechung. Es beginnt schon um zwei Uhr Morgens. Um diese Zeit nämlich kommen die Vorräthe auf schweren Karren von allen Seiten auf den Markt, und sogleich setzen sich tausend Arme, tausend Beine in Bewegung. Da wird abgeladen und ausgepackt, geordnet und gesichtet, gehandelt und gefeilscht, geschrieen und geflucht. Ich kann mich rühmen, die größten Märkte Londons zu jeder Stunde des Tages und der Nacht gesehen zu haben. Ich habe Coventgarden, den größten Gemüsemarkt, und Smithfield, vor zwanzig Jahren der größte Viehmarkt Londons, unzählige Male und zu allen Jahreszeiten besucht; aber wie sehr stehen diese Märkte Londons, was dramatisches Interesse betrifft, hinter dem Marché des Innocents zurück! Der Engländer ist gewöhnlich bei der Arbeit düster, mürrisch und schweigsam. Man hört ihn niemals singen; man sieht ihn selten lachen. Der Franzose hingegen erheitert sich jede Arbeit durch Gesang, durch Gespräche, durch Scherze aller Art. Er thut nichts schweigend, und es hat mir immer als die größte Merkwürdigkeit geschienen, daß eine Franzose den Trappistenorden gründen konnte. Die Scherze, die aus dem Marché des Innocents gemacht werden, sind nicht immer rosenfarbig, und die Witze, die man dort hört, kommen selten direct von Attika; doch verrathen die Unterhaltungen dieser Leute eine außerordentliche geistige Frische, so daß man nicht leicht müde wird, ihnen zuzuhören. Es versteht sich von selbst, daß bei Streitigkeiten, die während des Abladens zuweilen entstehen, die Faust manchmal Lust bekommt, das Richteramt zu übernehmen; dergleichen Scenen werden aber durch die beständige Anwesenheit der Diener der Gerechtigkeit, durch die Sergeants de Ville, verhindert. Diese schwertumgürteten Rächer der beleidigten öffentlichen Ordnung halten strenge Wacht und verlassen keinen Augenblick den Markt, den sie auch vor dem langfingerigen Gesindel zu schützen haben.

Nach einigen Stunden sind die Lebensmittel in die Hallen gebracht, und der Markt beginnt, d. h. Paris kommt, um sich für den nächsten Mittagstisch zu versorgen. Das ist ein Drängen und Drücken, ein Stoßen und Schieben; ein Rennen und Jagen! Die Zeit ist so kostbar; die Wege sind so weit und der Kauflustigen so viele, daß der Einzelne von dem Strome der Massen fortgerissen wird. In den Vormittagsstunden ist natürlich der Markt am lebhaftesten, weil um diese Zeit die Lebensmittel frischer und noch in größerer Menge vorhanden. Aber nicht alle Leute haben das Glück, nach Korinth gehen zu können. Es ist verhältnißmäßig nur Wenigen gegönnt, die Ankäufe am frühen Morgen zu machen und aus dem Guten das Beste zu wählen. Die Reichen haben die Wahl; die Armen haben die Qual und müssen sich mit dem begnügen, was der heikele Geschmack der Wohlhabenden übrig gelassen.

Um ein recht lebhaftes Bild von der ungeheuren Menge der Lebensmittel zu bekommen, die von dem Marché des Innocents täglich nach allen Theilen der Stadt Paris geschickt werden, braucht man nur in den Butter-Pavillon zu gehen. Hier sind jeden Morgen wahrhafte Gebirgsketten von Butter zu sehen, Butter-Himalayas, deren gelbe Häupter stolz emporragen. Wenn man diese Kolosse betrachtet, sollte man glauben, sie müßten für den Bedarf von ganz Frankreich ausreichen; aber schon lange vor der Abenddämmerung sind diese Gebirge zu unansehnlichen Hügeln zusammengeschmolzen. Man wird sich darüber nicht wundern, wenn man bedenkt, daß es in Paris an vierundzwanzigtausend Speisewirthschaften giebt. In den meisten derselben wird leider der Magen auf’s Grausamste hintergangen. In den Hallen selbst aber und zwar im Pavillon Nummer Zwölf, wo die Butter verkauft wird, werden Gerichte feilgeboten, die einst auf den verschiedensten Tafeln geprangt und, nachdem sie mehrere Metamorphosen durchgemacht, für ein paar Sous den Muth des Appetits auf die Probe stellen, ehe sie für immer vom Schauplatz

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_344.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)