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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 52.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Schluß.)


32.

„Meine liebe, kleine Lenore, das Allergescheidteste wäre, mit Herrn Claudius selbst zu verhandeln,“ unterbrach mich die alte Dame lächelnd, als ich mit meiner Mission kaum zur Hälfte herausgerückt war.

„Ist er denn zu sprechen?“ fragte ich beklommen.

„Ei freilich, für Alle. … Gehen Sie nur hinauf in den ersten Salon, wo Lothar’s Bild hängt – es sind heute schon Viele droben gewesen – der Salon ist vorläufig Geschäftszimmer.“

Ich stieg hinauf. Vor der Thür aber verharrte ich einen Augenblick und preßte die Hände auf das Herz – ich meinte, ich müsse an dem stürmischen Klopfen ersticken. Dann trat ich leisen Schrittes ein. Das Zimmer war nicht so dunkel verhangen, als ich geglaubt hatte. Die Fenster waren mit grünen Stoffen umhüllt, die einen sanften wohlthuenden Schein verbreiteten. Herr Claudius saß mit dem Rücken nach mir zu in einem Fauteuil und hatte den Kopf an die Lehne zurückgelegt – ein grüner Schirm bedeckte seine Augen. … Er schien nicht zu bemerken, daß Jemand eingetreten war, oder meinte vielleicht, es sei Fräulein Fliedner, denn er veränderte seine Stellung nicht im Geringsten.

Ach, nun war ja mein tiefster, heißester Wunsch erfüllt – ich sah ihn wieder!

Sprechen konnte ich nicht – ich fürchtete mich unsäglich vor dem ersten Laut meiner Stimme in dem stillen Zimmer. Fast unhörhar trat ich näher und ergriff zaghaft seine linke Hand, die über die Armlehne des Stuhles herabhing. … Noch verharrte der blonde Kopf in seiner vollkommen ruhigen Lage, aber blitzschnell kam auch die Rechte herüber, und ich fühlte mich plötzlich gefangen.

„Ach, ich weiß, wem die kleine, braune Hand gehört, die da so furchtsam zwischen meinen Fingern aufzuckt, wie ein ängstlich schlagendes Vogelherz,“ rief er, ohne sich zu bewegen. „Habe ich doch gehört, wie es die Treppe heraufgehüpft kam, und aus den verschiedenen Tempi der Schritte klang es deutlich: ‚Gehst Du hinein, oder nicht? Soll das Mitleid mit dem armen Gefangenen siegen, oder der alte Trotz, der wartet, bis er seinen Kerker verläßt und zu mir kömmt?‘ –“

„O Herr Claudius,“ unterbrach ich ihn, „trotzig bin ich nicht gewesen!“

Jetzt wandte er mir rasch das Gesicht zu, ohne meine Hand loszulassen.

„Nein, nein, Sie waren es auch nicht, Lenore,“ sagte er in verschleierten Tönen, „ich weiß es. … Meine Umgebung ahnt nicht, weshalb ich gerade in der Dämmerstunde stets so unduldsam gegen jegliches Geräusch war und die allertiefste Stille gebieterisch forderte. Um diese Stunde hörte ich mit Geisterohren, oder auch nur mit dem sehnsüchtigen Herzen – denn ich wußte genau, wann die leichten Mädchenfüße die Karolinenlust verließen, ich verfolgte jeden Schritt durch die Gärten und die Treppe herauf und wartete mit Inbrunst auf das halbgeflüsterte: ‚Wie geht es ihm? Hat er viele Schmerzen?‘ – Das klang nichts weniger als trotzig. … Und dann sah ich, wie die wilden Locken mit der wohlbekannten Bewegung von der Stirn zurückgeschüttelt wurden, und die großen, lieben, bösen Augen weit aufgeschlagen an Fräulein Fliedner’s berichtenden Lippen hingen.“ …

Ich vergaß Alles, was zwischen uns lag, und gab mich der Macht des Augenblickes widerstandlos hin.

„Ach, sie verstand mich nicht so gut,“ sagte ich rasch und unbedenklich. „Ich habe sehnlich gewünscht, sie möchte mich einmal, nur ein einziges Mal zu Ihnen führen. Ich wäre ruhiger geworden, hätte ich in Ihre armen Augen sehen dürfen, und Sie hätten mir gesagt: ‚Ich sehe Sie!‘ … Bitte, nur einmal heben Sie den Schirm!“

Er sprang auf, nahm den Schirm ab und warf ihn auf den Tisch. Seine schlanke Figur stand so hoch, elastisch und ungebeugt vor mir, wie immer.

„Nun denn, ich sehe Sie!“ versetzte er lächelnd. „Ich sehe, wie die kleine Lenore in den fünf langen Wochen nicht um eine Linie gewachsen ist und mir noch immer mit dem lockigen Scheitel genau bis an das Herz reicht. Ich sehe eben, daß der Kopf noch immer so trotzig und empört zurückgeworfen wird, wie ehedem – freilich, was können Sie dazu, daß die Natur auch einmal ein wunderkleines Feenkind unter ihren Erschaffenen sehen wollte! Ich sehe ferner, daß das braune Gesichtchen blaß geworden ist, blaß von Schrecken, Kummer und Nachtwachen. … Arme Lenore, wir haben viel gut zu machen – Ihr Vater und ich!“

Er ergriff meine Hand und wollte mich sanft an sich ziehen; das brachte mich plötzlich zur Besinnung und überfluthete mein Herz mit der ganzen Qual des bösen Bewußtseins.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 861. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_861.jpg&oldid=- (Version vom 12.1.2020)