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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

preisgegeben. Schon war sein Tod beschlossen; da erinnerte er den Sieger an jenen Vertrag, dem beide, als sie noch im Prinzenkäfig schmachteten, beigestimmt hatten, und er konnte frei in’s Ausland ziehen; ein schönes Beispiel von Milde, das selbst in Europa im Mittelalter nicht immer befolgt wurde; denn es ist ohne Zweifel im Geiste jener Zeit gesprochen, was Shakespeare in Richard dem Zweiten sagt, wo er Jemand den Vorschlag in den Mund legt, den entthronten Fürsten lediglich zu verbannen, anstatt ihn einzukerkern in der Absicht, ihn nachher heimlich zu tödten: „Wohl gütiger wäre dies, doch weniger politisch.“

Das Loos, das Eduard den Zweiten und Richard den Zweiten traf, ist auch das fast aller entthronten Fürsten des Orients gewesen. In Europa freilich hat die Zeit die Sitten gemildert. Sogar in der Türkei ist der schreckliche Brauch, daß der zur Regierung gelangte Sultan alle seine Brüder tödten ließ, seit mehreren Generationen nicht mehr geübt worden. Aber an geheimnißvollen Thaten, die das Dunkel der Prinzengemächer umhüllt, fehlt es doch auch heut zu Tage in mohamedanischen Ländern nicht ganz, und da wir gerade bei Tunis sind, so will ich von zweien berichten, die sich in neuester Zeit zugetragen haben.

Der im Jahre 1814 von seinem Vetter und Nachfolger ermordete Bey Othman hatte eine Nebengattin, eine schwarze Sclavin, in gesegneten Umständen hinterlassen. Ihr Zustand war noch nicht bemerklich, sonst hätte sie sicher das Loos aller Kinder und schwangeren Frauen ihres Gatten getheilt, die sämmtlich gleichzeitig mit ihrem Herrn einem gewaltsamen Tode erlagen. Mit dessen noch übrigem Harem in ein enges Gefängniß gebracht, kam sie nach abgelaufener Frist nieder und hatte das Glück, daß man ihr das Kind ließ. Wahrscheinlich hatte sie es für ein Mädchen ausgegeben, und ein Mädchen ist im Orient Niemandem im Wege. Möglich war dies, weil kein Mensch ein solches Gefängniß zu betreten braucht; das Essen wird durch ein Schiebfenster hineingeschoben; für Entfernung des Unraths ist im Innern vorgesorgt. Man entdeckte erst den kleinen Prinzen Mohammed, als er schon vierzehn Jahre alt war und man den gefangenen Harem frei geben wollte. Der regierende Bey war gewiß sehr unangenehm überrascht, als er von der Existenz dieses kleinen Thronprätendenten hörte. Indeß die milderen Sitten dieses Jahrhunderts waren inzwischen auch in Tunis nicht ohne Einfluß geblieben. Man hatte bereits angefangen, Civilisation zu spielen, und damit hätte das Erwürgen des Knaben denn doch zu sehr in Widerspruch gestanden. Man ließ ihn also am Leben, brachte ihn, da seine Mutter inzwischen gestorben war, mit einer Wärterin in einen andern kleineren Prinzenkäfig, traf für die nöthigen täglichen Rationen Vorsorge und kümmerte sich nicht weiter um ihn. In diesem Gefängniß, gänzlich von der Welt abgeschlossen, blieb der Sohn des einstigen Sultans bis 1855, also bis zu seinem einundvierzigsten Lebensjahre.

Im gedachten Jahre gelangte Mohammed Bey auf den Thron, ein sanfter, gutmüthiger Fürst, der seine Regierung damit begann, seinem gefangenen gleichnamigen Vetter die Freiheit zu geben. Aber was sollte dieser mit ihr machen, da er nie gelernt hatte, sich frei zu bewegen? Er war auch viel zu alt, um noch die ihm bisher gänzlich unbekannt gebliebenen Gebräuche der Außenwelt zu erlernen. Man glaubte einen neuen Kaspar Hauser zu sehen, so linkisch benahm, so unwissend in den einfachsten Dingen zeigte er sich, so gänzlich fremd war ihm die Welt. Nur war der wirkliche Kaspar Hauser ein Jüngling und folglich noch lernfähig gewesen; der einundvierzigjährige Mohammed dagegen, dessen Fähigkeiten nie geübt worden waren, vermochte nicht mehr, sich in die Welt zu schicken. Er war ein Kind, aber leider ein sehr altes Kind. Man machte zwar allerlei Versuche, ihn ein wenig zu dressiren, aber ohne Erfolg. Man gab ihm Unterricht im Sprechen, denn er redete kaum eine menschliche Sprache, aber er blieb bei seinem kindischen Kauderwälsch. Man ließ ihn spazieren fahren, reiten, den Bazar besuchen. Als er zum ersten Male ausfuhr, beängstigte ihn die Bewegung des Wagens dergestalt, daß er weinte, schrie und herausspringen wollte. Man mußte ihn gewaltsam festhalten. Noch unglücklicher fiel sein Versuch im Reiten aus; dem Orientalen kommt das Reiten so einfach vor, daß er nicht daran denkt, daß auch dies gelernt sein will. So gab denn der Fürst Befehl, Mohammed sollte spazieren reiten; die Stallknechte thaten auch das Ihrige, diesen Befehl in’s Werk zu setzen. Aber mehr glaubten sie nicht thun zu können, als den Prinzen auf ein Pferd zu setzen und ihn so lange festzuhalten, als dieses stille stand. Kaum war es aber im Gange, so verlor der Unglückliche das Gleichgewicht, fiel und beschädigte sich. Wenn er den Bazar besuchte, so gefiel er sich darin, die bunten, ihm meist unbekannten Waaren durcheinander oder auch wohl auf die Straße zu werfen. Für den Hof wurden diese Besuche sehr kostspielig, aber seltsamer Weise (für uns Europäer, dem Orientalen jedoch sehr erklärlich) machten ihn seine Absonderlichkeiten bei dem gewöhnlichen Volk beliebt. Man sah darin ein Zeichen gestörten Geistes, und da jeder Verrückte im Orient für heilig gilt, so fing man an ihn als einen Auserwählten zu verehren. Nebenbei zeigte es sich, daß er mit gemeinen Leuten vom Schlage seiner Wärterin, des einzigen menschlichen Wesens, das um ihn gewesen war, viel leichter und verständlicher sprechen und verkehren konnte, als mit vornehmen. Seine Volksthümlichkeit wuchs dadurch. Man sprach nur noch von dem „heiligen“ Prinzen, dem Freunde der Armen und Geringen; ja man raunte sich in die Ohren, daß er rechtmäßiger Weise eigentlich der Herrscher oder wenigstens der Thronfolger sein müsse. Ersteres war nicht richtig, letzteres zweifelhaft, denn er stand mit dem damaligen designirten Thronfolger etwa in einem Alter und das Alter der Prinzen (einerlei ob sie mit dem Herrscher näher oder entfernter verwandt sind) entscheidet bei der Thronfolge im Orient. War er aber einige Tage älter oder jünger, als sein begünstigter Vetter, wer vermochte es zu sagen? Dies genügte jedoch, um ihn dem Hofe gefährlich erscheinen zu lassen. Man gab plötzlich Befehl, die Spaziergänge einzustellen. Man sperrte ihn zwar nicht wieder ein, aber man sorgte dafür, daß er den Bardo nicht mehr verließ. So erfreute er sich einer relativen Freiheit bis zum Jahre 1859, als sein Beschützer starb und eben jener Thronfolger, der mit ihm gleichaltrig war, die Herrschaft antrat. Jetzt war es mit stiller Freiheit vorbei. Er mußte wieder in den Prinzenkäfig wandern, diesmal allein, denn man trennte ihn sogar von seiner alten Wärterin. Man weiß nicht genau, wie lange er noch im Gefängniß gelebt hat. Daß er aber noch im Jahre 1866 lebte, ist gewiß. Nach und vor jenem Jahre fanden zwei Rebellionen in Tunesien statt und mit den Schreckensmaßregeln, welche ihrer Ueberwältigung folgten, bringt man den Tod des Prinzen in Verbindung; daß dieser ein gewaltsamer war, wird allgemein geglaubt. Sein Datum ist aber Niemand bekannt, außer natürlich dem, der ihn befohlen, und dessen Werkzeugen. Mohammed starb, wie er gelebt, unbemerkt und geheimnisvoll.

Wenn ich freilich einem Manne Glauben schenken dürfte, den ich einmal in einer Ramadhan-Nacht in einem Kaffeehause von Tunis kennen lernte, so könnte ich die Geschichte jenes Todes mit mehr Einzelheiten erzählen. Sie ist allerdings ein wenig grauenhaft, nebenbei auch hinlänglich abergläubisch, aber man muß der orientalischen Phantasie etwas zu Gute halten und nicht vergessen, daß es eben ein Orientale ist, der sie erzählte oder vielmehr erzählt, denn ich will sie hier mit seinen Worten, so gut ich im Gedächtniß habe, wiederholen und werfe damit alle und jede Verantwortlichkeit an derselben von meinen Schultern ab.

„Wissen sie,“ so begann mein tunesischer Kaffeehausbekannter, „was die eigentliche Ursache von des Prinzen Mohammed Tode war? Eine Geistererscheinung, aber keine Geistererscheinung gewöhnlicher Art, also keine Erscheinung eines Verstorbenen. Dergleichen kommt bei uns alle Tage vor. Was aber ganz unerhört ist, besteht darin, daß eine noch lebende Person, von der man genau weiß, daß sie wo anders ist, plötzlich leibhaftig vor uns steht. so ging es unserm Herrn, dem Bey von Tunis, mit dem Prinzen Mohammed, von dem er doch sehr gut wußte, daß er in einem Hintergebäude seines Palastes wohlverwahrt hinter Schloß und Riegel saß. Dennoch zeigte sich dieser eines Abends neben dem Ruhebette des Fürsten. Er hatten eine alte Dschobba (Aermelhemd) und ein Paar gelbe Babuschen an, einen grünen Turban auf dem Haupte und sah sehr wehmüthig aus. Der Fürst war zum Tode erschrocken und konnte lange nicht um Hülfe rufen. Als er dies endlich vermochte und seine Diener kamen, suchte man den Prinzen umsonst. Man schickte nach seinem Gefängnisse und fand ihn zwar ganz so gekleidet, wie ihn der Bey gesehen, aber in tiefem Schlafe. Man gewann durch Untersuchung des Kerkers die Gewißheit, daß er nach dem natürlichen Laufe der Dinge unmöglich entschlüpfen konnte. Dennoch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_062.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)