Seite:Die Gartenlaube (1873) 100.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


als Zeuge nicht mit eintreten dürfen: ich als erst heranreifender Knabe konnte es. Die Liebenden verschwiegen natürlich ihr Verhältniß streng. Ich selbst platzte wohl einmal mit der Frage heraus: „Nicht wahr, Joseph, Du hast das Fräulein lieb?“ Als er mir aber auswich, da wußte ich genug, und von da an that ich keine lästige Frage mehr und drängte mich auch niemals ungerufen in eine stille Liebesstunde hinein. Dies Zartgefühl bei meinen noch jungen Jahren und meinem sonst ungeschlachten Wesen gewann mir des Fräuleins Gemüth, und sie nahm sich meiner gütig und herzlich an.

Mit jener neckenden Freundlichkeit, die alle Unterweisung so eindringlich macht, lehrte sie mich meinem rasch aufgeschossenen schlottrigen Körper etwas Haltung geben, gewöhnte mir platte und unzierliche Ausdrücke ab und verwickelte mich in Gespräche


Franz Ziegler.


und Disputationen, die mich zwangen, ihren klugen Augen und Gründen meinen besten Scharfsinn entgegenzusetzen. Bei ihr, die fromm, aber nicht bigott war, lernte ich zuerst meiner Vorurtheile gegen die katholische Confession mich schämen, vor der ich in der Jugend theils Scheu, theils Verachtung eingesogen hatte; auch die frische Begeisterung wirkte bei mir darauf ein, mit der manche Studienfreunde Joseph’s das System des damals in Bonn lehrenden berühmten Hermes als die nie zu erschütternde Versöhnung des Denkens mit der Offenbarung priesen und auf der Kanzel verbreiteten. Dabei passirten freilich oft wunderliche Zusammenstöße.

An einem Winterabende war ich nebst Joseph und einem seiner älteren Brüder zu einer kleinen Gesellschaft beim Hauptmann eingeladen, wo man heiter und ohne Umstände mitaß, was eben die Hausküche bot. Ein Lieblingsgericht, ich glaube Hasenpfeffer, wurde aufgetragen, und Alles war in fröhlicher Thätigkeit, als mir plötzlich eine unserer häufigen Controversen durch den Kopf fuhr. Wie ich denn dazumal bei meinem jungen raschen Blute äußerst vorschnäppig mit dem Munde war, platzte ich unbedacht mit den Worten heraus: „Aber es ist ja Fastenzeit; wir haben ja heute Mittag Alle Fleisch gegessen; wie dürft Ihr Katholiken denn heute Abend wieder Fleisch essen?“ Mit dieser überraschenden Frage (denn Keiner hatte an die Uebertretung des Kirchengebots gedacht) brachte ich eine jähe Pause der Eßarbeit hervor.

Der gleichmüthige Joseph sagte. „Das ist auch wahr; aber beichten muß ich’s nun doch“ – und aß ruhig weiter.

Das Fräulein erklärte, sie sei wegen ihrer Kränklichkeit vom Fastengesetz frei. Der ältere Bücheler aber, der etwas hitzig war, wandte seinen Verdruß auf mich und fragte mich in hellem Zorn: „Konntest Du Junge damit nicht warten, bis ich ruhig fertig war?“

Darüber entstand dann ein so herzliches Gelächter, daß der Zornige selbst einstimmte, die Gabel wieder ergriff und gleichfalls in Frieden seinen Teller abaß. So geht’s freilich vielen Menschen; sie haben den Beichtvater sehr gern nach begangener Sünde; aber wenn er die Sünde noch verhüten könnte, da kommt er ihnen ungelegen wie ein böses Gewissen.

Am schönsten wurde mein Verhältniß zu jenem Liebespaar, als Karoline mit ihrem Oheim auf’s Land in das benachbarte Kessenich zog, wo Joseph sie täglich besuchte und mich gern mitnahm, wenn ich meine Schularbeiten früh genug fertig hatte. Da der Hauptmann kränkelte, war ich gleichsam der Ehrenwächter bei den Spaziergängen, die wir fleißig auf die benachbarten Dörfer unternahmen. Dort setzten wir uns in die Baumgärten der ländlichen Wirthshäuser, tranken neuen Wein und aßen Kirmeßweck dazu, wie am Rhein der Gebrauch ist. Hernach lief und spielte ich mit dem Fräulein in Feld und Wiese, und mit unserer Raschheit neckten wir ihren etwas schwerfälligen Liebhaber. Auf dem Rückwege gab es zuletzt das allerfröhlichste Geplauder, dem ihre köstliche französische Lebhaftigkeit einen unbegreiflichen Zauber verlieh. In dieser Gesellschaft durfte ich so ganz Kind sein und bleiben, und doch reifte hier mein Verstand und meine Weltkenntniß rascher als über allen Büchern. Ich dachte nicht daran, an den oft wüsten Gesellschaften meiner Mitschüler theilzunehmen, von denen einzelne zum Kartenspiel auf ihren Stuben zusammenkamen oder Schenken in verborgenen Ecken der Stadt besuchten; denn wie viel glücklicher war ich bei jenen guten, innigen Menschen! Nur dieser liebenswürdigen Französin verdanke ich die Leichtigkeit, mit der ich trotz späterer jahrelanger Zurückgezogenheit von der gebildeten Welt wieder in Frauenkreise einzutreten vermochte.




Das Meisterstück im Magdalenenthurme zu Breslau.


Meine vorjährige Studienreise in den Karpathen führte mich auch über Breslau. Auf dem Rittergute eines Freundes, kaum eine Stunde von der alten Reichsstadt entfernt, hatte ich auf kurze Zeit Quartier aufgeschlagen und fand von dort aus oft Gelegenheit, mir den ehemaligen Bischofssitz Wratislaw, die „Pforte des Ruhmes“, anzusehen. Wenn ich früh hineinfuhr, schwammen die zahlreichen Thürme mit ihren goldenen Knäufen im blauen Dufte frischer Morgenluft; über den Saaten höher und höher schwebend, stimmten die Lerchen ihre Frühandacht an und in deren Lieder mischten sich von ferne in frommem Baß die ehernen Stimmen der Glocken vom ehrwürdigen Dome, von St. Elisabeth, Maria Magdalena und den vielen anderen Kirchen und Klöstern.

Einer meiner ersten Besuche und auch der letzte in Breslau galt der Armen-Sünderglocke im Magdalenenthurme. Ich wollte die große Glocke mit eigenen Augen sehen, von der Wilhelm Müller so ergreifend in seiner Ballade „Der Glockenguß zu Breslau“ erzählt.

Wer kennt nicht die Sage, welche durch den Dichter so

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_100.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)