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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Blätter und Blüthen.


Auf den Fjellen Lapplands. (Mit Abbildung, S. 93.) Auf meiner vorjährigen Sommerreise durch Lappland hatte ich es eines Nachmittags gewagt, ohne die bewährte Leitung meines Führers, Enar Laïti, den ich in dem Flecken Roknäs zurückgelassen, von Dorf zu Dorf landeinwärts zu wandern. Zwischen Morästen und Wäldern, Seen und ansteigenden Hügeln hinschreitend, sah ich mich plötzlich vom rechten Wege abgeirrt. Unvermuthet lagen vor mir die steil aufragenden Felsenausläufer des lappländischen Gebirges, der sogenanntem „Nordischen Alpen“, mit ihren tiefen Schluchten, spärlich bewaldeten Kuppen und zerrissenen Felsformationen; hinter mir aber dehnte sich eine endlose Fläche jener Sümpfe und seichten Gewässer aus, an welchen Lappland so reich ist. Schon brach der Abend herein, und Nebel dampften aus den Wassern. Was thun? Sollte ich auf morastigen Wegen den Rückweg wagen zu meinem Führer Enar Laïti? Sollte ich den Schritt vorwärts lenken in die zerklüftete Felsenwildniß des Gebirges? Ich wählte das Letzte. Vielleicht, daß ich auf menschliche Wohnungen treffe! Frischer Muth, heiterer Sinn und alle guten Dinge waren mit mir – nur Eines nicht: die Gunst des Schicksals; denn immer wilder wurde das Gebirge, immer unwirthlicher wurden die Wege und immer tiefer sank die Sonne. Schon machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, in irgend einer Schlucht die Nacht über campiren zu müssen, unter mir als Matratze den felsigen Boden, über mir als Decke die Nebel. Horch! da scholl es von der Höhe, wie der langgezogene Ton eines schweizer Hirtenhorns.

Das war ein Zeuge menschlicher Nähe. Von Hoffnung belebt, blickte ich aufwärts, auf der Felsenhöhe den Urheber des mich in der Einöde so freundlich lockenden Klanges zu entdecken. Vergebens! der dichte Nebel beschränkte den Blick. „Aber vorwärts!“ rief ich mir zu, „wo Menschen sind, da muß auch ein Obdach sein!“ Und mühsam begann ich von Fels zu Fels die steile Naturtreppe hinanzuklimmen. Wiederum erscholl das Horn. Höher kletterte ich, immer höher. Plötzlich – überraschendes Ziel der halsbrecherischen Reise! – stand vor mir auf der Höhe des Felsens ein blühendes Hirtenmädchen. Mit lang über die Schultern herabhängenden Haaren, die rothe Mütze auf dem Kopfe, in schlichtem blauen Rocke und derben Schuhen, das Roth der Gesundheit auf den Wangen, war sie ein echtes lappländisches Landmädchen, nur von schönerer, edlerer Gesichtsbildung als die meisten ihrer Schwestern, welche in Zügen und Mienen den mongolischen Typus ihrer Race nur selten verleugnen. Noch hielt sie das Hirtenhorn, dessen Ruf vorhin an mein Ohr geklungen, in der Hand, und als sie, meinen Gruß freundlich und sicher erwidernd, so stramm und fest, so keck und naturfrisch dastand, da erschien sie mir als eine Auserwählte ihres Stammes.

In der Sprache ihres Landes, deren ich ein wenig mächtig bin, redete ich sie an, und schnell flogen Fragen und Antworten hinüber und herüber.

Katin hieß sie, wie ich bald erfuhr, und war die Tochter des Rennthierbesitzers Aslac Wasala, der in einem nahen Dorfe ansässig war. Den Tag über hatte sie die väterliche Heerde im Felsengebirge geweidet und bei dem sich neigenden Abende in’s Horn gestoßen, die zerstreuten Schutzbefohlenen zu sammeln. Es ist ein eigenartiges Instrument, dieses Horn der lappländischen Hirten. Aus Holz schlicht und derb, aber nicht ohne eine gewisse Kunstfertigkeit gedrechselt, besteht es, wenn ich nicht irre, meistens aus zwei gleich langen Hälften, welche ohne ein anderes Bindemittel durch eine Art Rohrholz, mit dem sie gemeinschaftlich umwunden werden, zusammengefügt sind.

Katin stieß wieder in’s Horn. Da kamen sie alle zu Hauf, die flinken rüstigen Rennthiere; aus Schluchten und Klüften stiegen sie vom Thale herauf und sammelten sich um die Herrin, daß sie zur Nacht sie in’s gastliche Dorf führe.

„Die glücklichen Thiere! sie haben ein Heim – aber ich armer verirrter Wanderer –“ sprach ich halb scherzend und halb im Ernst.

Da begann Katin mit heller Stimme: „Der fremde Herr wird bei dem Vater schlafen im kühlen Zelte. Katin wird den fremden Herrn führen.“

Und sie führte mich. Nach einem nicht gar langen Wege über die unwirthlichen Fjellen (schwachbewaldete Berge, deren Spitzen auch im Sommer mit Schnee bedeckt sind), auf welchen uns die Rennthiere in Heerden begleiteten, standen wir vor dem auf dem Fjellrücken gelegenen Zelte Vater Aslac’s. Eine Schaar bellender Hunde, auf Katin’s Zurufe bald besänftigt, sprang uns entgegen. Vor dem Zelte spielende Kinder, durch meinen Anblick in Schrecken versetzt, stürzten hinein.

Wir traten ein. Mit echt nordischer Gastfreundschaft wurde ich von der Familie, aus Vater und Mutter mit sechs Kindern bestehend, empfangen. Ich sah mich um in der seltsamen Behausung. Das Tuch des Zeltes bestand aus einem Stoffe von Halbwolle (wadmal) und war mit vielem Geschick über Birkenzweige gespannt. In der Mitte des Zeltes befand sich ein Herd; ein Divan von Rennthierhäuten war ringsherum an den Zeltwänden angebracht; derselbe diente gleichzeitig als ein höchst origineller Aufbewahrungsort der heterogensten Dinge; denn unter den Rennthierhäuten lagen in buntestem durcheinander Fischergeräthe, Schlitten, Kleider, getrocknetes Rennthierfleisch, Käse, Kaffee, Kartoffeln, Branntwein etc.

Die Unterhaltung war bald im Fluß. Vater Aslac erzählte mir von dem Leben der Lappen, und nachdem wir ein höchst originelles Mahl eingenommen – es bestand aus Rennthierfleisch, aus Kaffee (nicht etwa mit Zucker, sondern mit Salz) und aus „Kask“ (Kaffee mit Branntwein) und mundete mir natürlich sehr wenig – legte sich die ganze Familie, theils auf Rennthierpelzen, zur Ruhe, und bald schnarchte es aus allen Ecken des engen Zeltes. Auch mir wurde ein weiches Lager bereitet – ich sank in tiefen Schlaf.

Am andern Morgen in der Frühe war ich wach, verabschiedete mich von meinem gastfreundlichen Wirthe, Aslac Wasala, und seiner Familie, schenkte der freundlich blickenden Katin einige Goldmünzen zu ihrem Sonntagsschmuck – für Goldmünzen geht der Lappe durch’s Feuer – und trat in der kühlen Morgenluft den Rückweg nach Roknäs an.

„Du grundgütiger Himmel! Lieber Herr, Du lebst noch?“ rief Enar Laïti, mein treuer Führer, mir entgegen, als ich in Roknäs ankam. „Ich glaubte Dich längst ertrunken in den Sümpfen Samelands. Welche gute Fee hat Dich gerettet?“

„Katin!“


Ein Bürgermeister ohne Furcht und Tadel. (Mit Portrait, S. 100.) Den wir mit dieser Würde ehren, der lebt noch und hat am dritten Februar seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert: Franz Ziegler, der Cato des preußischen Abgeordnetenhauses gegen das Ministerium Mühler kaum glaublichen Andenkens. Sein Leben fiel in die aufsteigende deutsche Zeit, deren erste Stufen 1840 und 1848 waren. Als Bürgermeister von Brandenburg, das, weil sein Geburtsort Warchau in der Nähe lag, ihn zu den Seinigen zählte, kam er als deutscher Volksbote in die Paulskirche. Später, im heimischen Parlament, stand er von allen Steuerverweigerern als der Einzige da, der für seine Beharrlichkeit büßen mußte; als Hochverräther und Aufrührer angeklagt, traf ihn die ganze Reihe der dafür vorhandenen Strafen: Amtsentsetzung, Verlust der Nationalcocarde, Festungshaft und selbst, nachdem letztere überstanden war, noch einjährige Verbannung aus Brandenburg. Und als der Landflüchtige sich in seiner Noth nach Berlin wandte, wurde er abgewiesen. Das waren gar hübsche Zeiten für die glückliche Reaction. Ziegler griff zur Schriftstellerfeder. Hatte er früher die Frage: „Wie ist dem Handwerkerstande zu helfen?“ beantwortet und das Volk über die sociale Reform des Abgabenwesens, über die Fabrik-Creditgesellschaft und dergl. Gegenstände belehrt, so veröffentlichte er von 1860 an mehrere poetische Werke, wie Landwehrmann Krille“, „Der Bettler vom Capitol“ (abgedruckt in der Gartenlaube 1864, Nr. 27), „Nondum“ etc., die ihn dem Volke auch als kernigen märkischen Dichter zeigten. In sein eigenstes Lebenselement gerieth der nun schon alte Ziegler erst wieder, als ihn das Vertrauen seiner Mitbürger in Breslau 1864 wieder in das preußische Abgeordnetenhaus und 1867 in den Reichstag des Norddeutschen Bundes wählte. Hier war er, wie bereits bemerkt, der Sturmvogel, welcher das Sinken des Mühler’schen Ministerschiffs lang voraus anzeigte, ehe es geschah.

Wenn wir dem Mann hiermit öffentlich unsern Gruß zurufen und ihm zum siebzigsten Geburtstag gut und lang Heil wünschen, so wird es sich wohl ziemen, auch des Wahlkreises in Ehren zu gedenken, welcher einem solchen Kämpfer seinen Sitz im Volkshause sichert: es ist der 7. Regierungs-Bezirk Breslau, Stadt Breslau, westlicher Theil.


Wilhelm Müller. Unser in Nr. 24 des vor. Jahrg. der Gartenlaube angeregtes „Literarisches Geheimniß“ hat durch Briefe und sonstige Mittheilungen mannigfache Ergänzungen und Aufklärungen erfahren, aus denen wir, namentlich auf Grund einiger Notizen des Herrn G. Riefstal in Berlin, Nachfolgendes mittheilen.

Wilhelm Müller wohnte in den letzten Jahren seines Aufenthaltes zu Berlin, ehe er nach Charlottenburg übersiedelte, Neue Jakobsstraße Nr. 3. Er lebte dazumal und bis zu seinem Tode, der am 20. April 1866 erfolgte, mit einem Fräulein v. Bonin in einem wahlverwandtschaftlichen Freundschaftsbunde. Als wir ihn in gedachter Wohnung sprachen, trat er uns, einen höchst abgetragenen Ueberzieher als Schlafrock umgeworfen, entgegen. Er war ein Bibliomane, und man fand ihn regelmäßig auf allen Bücherauctionen, wie er denn auch bei Antiquaren oft zu finden war. Als einst aus einer Ausgabe der Uhland’schen Gedichte das Dienstmädchen einzelne Blätter entfernt hatte, während sie das Buch selbst in den Holzkorb geworfen, waren er und seine Freundin untröstlich, und ihr Schmerz legte sich erst, als, durch Verwendung eines befreundeten Bücherauctionators, die fehlenden Blätter von Cotta wieder ergänzt waren. Nach Aeußerungen des Fräulein v. Bonin war W. Müller den 18. März (alten Stils) 1790 zu Petersburg als Sohn des Bauraths v. Müller geboren. Er verließ Rußland eines Duells wegen. Die Eltern lebten in glänzenden Verhältnissen, wie denn auch unser W. Müller nicht in ärmlichen Verhältnissen gestorben ist. Sein Vermögen – er hatte sich zuletzt in Charlottenburg ein Haus gekauft, in dem er mit besagtem Fräulein lebte – sollen, nachdem auch die Bonin gestorben, ferne Verwandte geerbt haben, während nach anderer Lesart es milden Stiftungen vermacht wurde. Hat es mit dem Duell seine Richtigkeit, so ist die Annahme, daß der Name Wilhelm Müller ein angenommener sei, nicht gänzlich ausgeschlossen, wie denn auch seine trüben und düsteren Lebensschicksale nirgends in Abrede gestellt werden. Schließlich sei auch noch seiner Lebensbilder, „Rußland und seine Völker aus Gegenwart und Vergangenheit“, gedacht, eines Werkes, das nicht gänzlich vergessen sein sollte.

F. Brunold.




Zur Beachtung!

Auch heute, wenn wir nicht abermals eine Beilage opfern wollen, fehlt es uns an Raum, die zahlreich eingegangenen Liebesgaben für unsere unglücklichen Ostseebrüder zu quittiren. Wir hoffen unsere Pflicht in nächster Nummer erfüllen zu können und bemerken vorläufig, daß wir vor einigen Tagen abermals an

das Unterstützungs-Comité in Stralsund 500 Thaler
und das Provinzial-Comité in Stettin 500 Thaler

absenden konnten. Unsere Sammlung hat heute den Betrag von 5000 Thalern bereits überschritten.

Die Redaction der Gartenlaube.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_104.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)