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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Personen geschriebenen oder gesprochenen Worte“, welche „durch die Gunst der Umstände“ im Munde des Volkes sich zu „landläufigen Schlagwörtern und stehenden Redensarten“ aufgeschwungen haben und als solche fortleben. Mit den allgemein bekannten und beständig angeführten Aeußerungen unserer großen Dichter beginnend, hatte er im Verlaufe seines Vortrags auch einer Reihe von Aussprüchen Erwähnung gethan, welche erst in den jüngsten Tagen aus Parlamentsreden und öffentlichen Blättern in volksthümlichen Gebrauch übergegangen und augenblicklich thatsächlich in Aller Munde waren. Schier endlos erscholl der Applaus, als er der „angenehmen Temperatur“ des Herrenhauses und des mittlerweile unsterblich gewordenen „Blut und Eisen“ gedachte.

Auch eine noch jugendliche Dame auf den dem königlichen Hause reservirten Plätzen schien in den allgemeinen Jubel mit einzustimmen. Jählings aber winkte ihr eine der hinter ihr sitzenden älteren Begleiterinnen und gab ihr zu verstehen, daß ihre Ohren dergleichen Hohnphrasen der das Königthum bedrohenden liberalen Partei nicht mit anhören dürften. Und die junge Prinzessin – es war die Tochter des inzwischen verstorbenen Prinzen Albrecht von Preußen, die jetzt mit dem Herzog Wilhelm von Mecklenburg vermählte Prinzessin Alexandrine – verließ, obschon mit ersichtlichem Widerstreben, den Saal. Seit langer Zeit hatte kein Mitglied der Königsfamilie eine dieser Vorlesungen mit seinem Besuche beehrt, und nun, da endlich einmal wieder ein solches erscheint, muß es sich so plötzlich und gezwungener Maßen entfernen!

Wie man sich denken kann, durchlief die Kunde von dem Intermezzo alsbald die ganze Stadt; über Nacht war der Name des Vortragenden, des Dr. Georg Büchmann, den man wohl immer als vorzüglichen Lehrer einer der höheren Berliner Schulanstalten geschätzt und in engeren Kreisen als ausgezeichneten Gelehrten seines Fachs verehrt, den das große Publicum bisher jedoch kaum gekannt hatte, eine Tagesberühmtheit geworden. Dies würde an sich für uns und für die Leser der Gartenlaube nichts Wesentliches bedeuten – dergleichen Celebritäten sinken ja meist ebenso schnell wieder in das Dunkel zurück, wie sie aus diesem aufgetaucht sind – hätten Vorlesung und Vorfall nicht den nächsten Anstoß zu einer literarischen Schöpfung gegeben, die nicht nur in unserem eigenen, sondern auch im Schriftenthum anderer Nationen einzig dasteht und sich mit gutem Grund das Prädicat „berühmt“ vindiciren darf. Ist doch schon der Titel des Buches selbst, das eigenste Werk seines Verfassers, sofort in den Citatenschatz übergegangen und mehr vielleicht als mancher andere der in jenem gesammelten Aussprüche zu dem geworden, wofür der Autor einen so überaus gelungenen Ausdruck gefunden hat. War die Leistung überhaupt[1] ein glücklicher Griff, so viel mehr noch der gewählte Titel derselben – „Geflügelte Worte“. Mit Blitzesschnelle hat er sich Bürgerrecht erworben, soweit die deutsche Zunge klingt, als eine der werthvollsten Bereicherungen, welche unserer Sprache in neuer Zeit zu Theil geworden ist, und mit vollem Rechte darf Büchmann von ihm sagen: „der Name deckt jetzt vollkommen die bezeichnete Sache“.

Der Erfolg des im Jahre 1864 in der Haude- und Spener’schen Buchhandlung in erster Auflage erschienenen Büchmann’schen Buches war von Anfang an ein die kühnsten Autor- und Verlegerhoffnungen weit übersteigender. In der Vorrede hatte Büchmann aufgefordert, ihm behufs Erweiterung und Berichtigung des Werkes in einer vielleicht nothwendig werdenden zweiten Auflage mitzutheilen, was Diesem oder Jenem an ferneren einschlagenden Citaten bekannt sei, und eine wahre Fluth von Beiträgen brach in Folge dieser Bitte auf ihn herein – ein Beweis, welchen außerordentlichen Anklang der Gedanke des Buches gefunden hatte. Mehr als zweihundert Menschen aller Stände und Berufsclassen, Schriftsteller und Kaufleute, Aerzte und Officiere, Geistliche und Gymnasiasten, insbesondere aber Juristen, vom Obertribunalsrath bis zum Auscultator herab, schickten ihm „geflügelte Worte“ ein. Nur die eigentlichen Männer der Wissenschaft, die Sprachforscher und Germanisten, die doch sonder Zweifel das reichhaltigste und gediegenste Material hätten beisteuern und das wärmste Interesse für das Unternehmen bethätigen sollen, verhielten sich, bis auf einzelne glänzende Ausnahmen, diesem gegenüber mit einer Gleichgültigkeit, welche sich schwer würde erklären lassen, wäre es nicht eine beklagenswerthe Thatsache, daß der Mehrzahl der gelehrten Herren jedes Popularisiren der Wissenschaft für eine unwürdige Entweihung derselben gilt.

Begreiflicher Weise ist nicht alles eitel Gold gewesen, was dergestalt dem Verfasser zugeflossen. Wie viele höchst wunderliche und drollige Einsendungen haben ihm im Gegentheile Post und Buchhandel gebracht! Echte Berliner „Kalauer“, Redensarten, Fremd- und Sprüchwörter etc. – das Alles hat sich ihm als „geflügeltes Wort“ präsentirt und, meist unter Namhaftmachung des Spenders, in die Sammlung aufgenommen sein wollen. Den bunten Reichthum dieser seltsamen Blüthenlese zu mustern, welche in einem eigenen Pulte des Autors wohl verwahrt lagert, hat etwas überaus Ergötzliches, und fast kann man bedauern, daß die Discretion des Verfassers den vergnüglichen Schatz der Oeffentlichkeit entzieht.

Sehen wir von diesen verfehlten Gaben ab, bei denen wir indeß immer den guten Willen und die Theilnahme für die Sache schätzen müssen, so dürfte sich wohl selten ein literarisches Erzeugniß aus dem Publicum selbst heraus einer so regen Förderung durch Rath und That zu erfreuen gehabt haben wie das Büchmann’sche Buch. Mit jeder neuen Auflage desselben aber ist diese Popularität und mit ihr, um uns so auszudrücken, die Zahl der Mitarbeiter gewachsen. Wie manche ihrer Mittheilungen hat der Verfasser fast Wort für Wort seinem Texte einverleiben können! Wie viele Andere sind ihm mit den dankenswerthesten Winken und Andeutungen an die Hand gegangen! Das Beste freilich hat bei alledem der Autor selbst gethan, und man muß ihn auf seinem Studirzimmer aufsuchen, um den Fleiß zu bewundern, mit dem er unablässig an der Vervollständigung und Vervollkommnung seines Werkes arbeitet, wie er fort und fort die Schätze der alten und neuen Literatur durchforscht, eine etwa zweifelhafte Quelle irgend eines Citats festzustellen oder nach frischer Ausbeute zu suchen, und mit welcher scrupulösen Ordnung er Buch und Rechnung führt über seine Lesefrüchte und die im Interesse des Buches kommende und gehende Correspondenz, die, wie man sich denken kann, bereits zu sehr hohen Nummern angewachsen ist und fast täglich sich um neue Ziffern bereichert, darunter gar viele Stücke, welche das Herz des Autographensammlers mit scheelem Neide erfüllen dürften.

„Sehen Sie,“ sagte er mir vor Kurzem, als ich eine Nachmittagsstunde bei ihm zubrachte, „da hat man immer geglaubt, die gebratenen Tauben, welche Einem in’s Maul fliegen, seien uns vom Nürnberger Schuhmacher und Meistersinger Hans Sachs bescheert worden. Behüte der Himmel! sie fliegen schon viel länger umher. Hier, der alte griechische Schriftsteller Trochäus spricht bereits von ihnen.“ Und nun las er mir die Verse vor, welche darthun, daß man lange vor Hans Sachs schon von einem Schlaraffenlande mit in der Luft umherfliegenden gebratenen Tauben gefabelt hat. Dies nur ein Beispiel von dem unermüdlichen Eifer und der Gründlichkeit, mit denen Büchmann bei der Ergänzung und Berichtigung seiner „Geflügelten Worte“ zu Werke geht. Wie er selbst in dem Buche nachgerade eine Lebensaufgabe erblickt, so ist gewiß, daß er damit den gebildeten Kreisen der Nation ein Vermächtniß hinterlassen wird, welches auf einen bleibenden Platz in unserer Literatur und in unseren Bücherschränken rechnen darf.

Büchmann ordnet die „geflügelten Worte“ nach den Nationen, denen sie entstammen; er bietet uns deutsche, französische, englische, italienische, griechische und lateinische, außerdem biblische und geschichtliche Citate, und erleichtert uns das Aufsuchen jedes Ausspruchs durch ein Register von seltener Genauigkeit und Vollständigkeit. Der Hauptwerth der Arbeit, die nur das Ergebniß eines wahrhaft riesigen Fleißes sein konnte, besteht in dem Nachweise der Quellen oder wenigstens in den mühevollen Versuchen, diesen nachzuspüren; denn von gar vielen im Laufe der Zeit entstandenen geflügelten Worten, sobald diese nicht bestimmten Schriftwerken entlehnt sind, läßt sich der Ursprung nicht mehr ergründen. Selbst von diesen bestimmten Autoren entnommenen Citaten aber sind, wie das oben angeführte Beispiel von den gebratenen Tauben lehrt, nicht wenige der bekannten und meistgebrauchten uns, sozusagen, erst aus zweiter und dritter Hand überkommen, und nicht allemal wird es der Forschung möglich, die erste Hand aufzufinden.

Um eine Probe davon zu geben, was das vortreffliche Werk Alles darbietet, nennen wir das Wort „Chauvinismus“,

  1. Vorlage: „überhanpt“
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_114.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)