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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Mein Verfahren mit dem einfachen Festhalten und Niederdrücken des gerade gestreckten Halses und Kopfes auf die Unterlage erwies sich bei verschiedenen Hühnerindividuen und bei denselben Individuen zu verschiedenen Zeiten mehr oder weniger, ja unter Umständen, die sich nicht genauer bezeichnen und vorhersehen lassen, wohl auch gar nicht wirksam. Ganz wilde, frische Hühner scheinen sich besser zu diesen Versuchen zu eignen als solche, die etwa schon öfter zu denselben gedient haben und an den Verkehr und die Nähe der Menschen gewöhnt sind. Unter allen Umständen beweist das Gelingen meiner vereinfachten Controlversuche, daß sowohl das Binden und Zusammenschnüren der Füße des Huhnes, als auch das Hinmalen des mysteriösen Kreidestriches beim alten Kircherschen Verfahren zur Hervorrufung des wunderbaren Hemmungszustandes im Hühnernervensystem völlig entbehrlich sind. Das eigentliche Hauptmoment, welches die wunderbare Veränderung der Leistungsfähigkeit des Hühnernervensystems bewirkt, scheint somit, abgesehen von der Angst und dem Schrecken, welchen wir den Thieren in allen Fällen durch die unwiderstehliche, wenn auch sanfte Gewalt beim Festhalten und Ueberwältigen derselben einjagen, in der Geradestreckung des Halses und Kopfes zu liegen, indem hierdurch möglicherweise eine leise, mechanische Zerrung oder Dehnung gewisser Theile des Gehirns und Rückenmarks, in Folge der etwas gewaltsamen Ausgleichung der natürlichen Krümmungen dieser leicht verstimmbaren Organe, gesetzt werden dürfte.

Der Kreidestrich und der Druck des fesselnden Bandes, welche ja thatsächlich völlig entbehrlich sind, scheinen hingegen offenbar der reine Hocuspocus zu sein! Ich war anfänglich selbst dieser Meinung. Allein hüten wir uns, nach Art der Laien, voreilig bei einer „ungenau beobachteten“ Thatsache stehen zu bleiben! Denn die völlige Entbehrlichkeit des fesselnden Bandes und des Kreidestriches beweist ja noch lange nicht ihre absolute Gleichgültigkeit und Wirkungslosigkeit an sich; und andererseits ist die leise, mechanische Dehnung oder Zerrung des Hirns und Rückenmarkes in Folge der Ausgleichung der natürlichen Krümmungen der Wirbelsäule beim gewaltsamen Geradestrecken des Halses und Kopfes, sowie ihre supponirte verstimmende Wirkung auf die zarten Nervenelemente der Centralorgane ein zwar sehr plausibler und naheliegender, aber durchaus noch nicht thatsächlich begründeter Gedanke. Es bleibt uns nichts übrig, wir müssen unsere Untersuchung und Prüfung geduldig und umsichtig fortführen, um den thatsächlichen Zusammenhang der Erscheinung aufzufinden.

Sie sehen, die nüchterne, strenge Naturbeobachtung ist kein Kinderspiel; sie fordert, selbst gegenüber verhältnißmäßig einfachen Vorgängen, eine Umsicht, eine Besonnenheit und Kritik, von der sich Jene nichts träumen lassen, welche, wie zum Beispiel die Herren „Spiritisten“, freischwebende Tische, selbstmusicirende Harmonica’s, fliegende Guitarren, akustische Klopferscheinungen etc. frischweg als thatsächliche Aeußerungen „neuer Naturkräfte“, als „Geistermanifestationen“ etc. proclamiren und – bezeugen!

Ja, wenn die Sache so leicht und so einfach wäre, „neue Naturkräfte“ zu entdecken, oder überhaupt nur wirkliche, naturwissenschaftliche Thatsachen aufzufinden und sicherzustellen, da könnte freilich Jedermann ein „Naturforscher“ sein und heißen wollen!

Ich hätte wahrlich gleich hier Veranlassung, der berechtigten Entrüstung oder, je nach der Stimmung, der Heiterkeit Ausdruck zu geben, welche das unwissenschaftliche und leichtfertige Gebahren jener Herren jedem Naturforscher einflößt; doch die für heute uns zugemessene Zeit ist so weit vorgeschritten, daß ich mit dieser beiläufigen Bemerkung schließen will; überdies ist es überhaupt nicht in meiner Absicht, Stimmungen und subjectiven Gefühlen Ausdruck zu geben, sondern – das nächste Mal – vor allem die weitere Untersuchung des Kircherschen „Experimentum mirabile“ zu Ende zu bringen, um schließlich, so zu sagen als Nutzanwendung des vorgeführten Beispiels einer wissenschaftlichen Experimentaluntersuchung, eine eingehende, allgemein-verständliche Betrachtung über Naturwissenschaft und „Spiritismus“, „Geistermanifestationen“ etc. folgen lassen zu können, welche allen Jenen, die einer objectiven, vorurtheilsfreien Ueberlegung fähig, einer ernsten, aufklärenden Belehrung noch zugänglich sind, den Standpunkt recht eindringlich klar und verständlich machen dürfte, von dem aus diese Dinge beurtheilt werden müssen!

Auf morgen denn!




Goethe.

Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
III.

Der knabenhafte Irrgang, welcher unseren Wolfgang in einen zweideutigen Kreis geführt hatte, hinterließ einen nicht minder mächtigen Eindruck als sein erstes Verlieben. In jenem Kreise, aus welchem er nur mit einem stark angeblauten Auge wieder herauskam, war ihm das Gemeine, das Pöbelhafte so nahe getreten, daß er die leidige Erfahrung machen mußte, man könne mit rußigen Töpfen nicht handiren, ohne sich die Hände zu beschwärzen. Diese Erfahrung – mochten ihre Consequenzen bewußt oder instinctiv gezogen sein – hat wohl der aristokratischen Anlage von Goethe’s Wesen starken Vorschub geleistet, und weil der echte Aristokratismus eben nichts Anderes ist als der diametrale Gegensatz vom Gemeinen, nichts Anderes als der unversöhnliche Haß alles Pöbelhaften, so wollen wir den jungen Wolfgang glücklich preisen, daß ihm in seinen jungen Jahren die rußigen Töpfe einen so heilsamen und nachdrücklichen Schrecken eingejagt haben. Aber eine gerechtfertigte Klage ist dabei freilich, daß er später in seinem Leben die scharf markirte und leicht erkennbare Grenzlinie zwischen Volk und Pöbel mitunter absichtlich übersehen hat.

Wie die in dem werdenden Jünglinge erwachende Poesie zu seinen inneren und äußeren Bedrängnissen sich verhielt? Wir wissen es nicht actenmäßig genau. Wir wissen nur, daß Wolfgang schon frühzeitig ein eifriger „Reimer“ gewesen ist. Denn in diesem lag der „Dichter“ noch verpuppt, so verpuppt, daß kein Mensch hätte zu weissagen gewagt, aus solch einer Puppe würde binnen wenigen Jahren solch ein Prachtschmetterling schlüpfen. Goethe begann, wie Jedermann weiß, erst in seinen Leipziger und Straßburger Liebesliedern, im „Götz“, im „Werther“ und in den ersten Anläufen zum „Faust“ in Goethe’scher Weise zu dichten. Etwas Goethe’sches jedoch weisen schon die ersten Versuche des jungen Reimers auf, dieses nämlich, daß sie „Gelegenheitsgedichte“ waren, was zu sein er bekanntlich in alten Tagen seinen sämmtlichen Gedichten nachgesagt hat. Am 18. September 1823 äußerte er sich so gegen den guten Eckermann und fügte hinzu: „Alle meine Gedichte sind durch die Wirklichkeit angeregt.“

Selbstverständlich nahm diese „Anregung“ im Laufe der Zeit mannigfach veränderte Formen an. Frühestens war sie zumeist wohl nur eine ganz äußerliche, das heißt Freunde und Freundinnen erbaten sich bei dem fixen jungen Reimschmied ein „Gelegenheitsgedicht“ über dies und das. Dann auch ließ er sich durch die Lesung von Büchern, welche stark auf ihn wirkten, zur poetischen Wiedergabe der erhaltenen Eindrücke bestimmen. So durch die Patriarchengeschichte der Bibel zu einem epischen Versuche: „Joseph und seine Brüder“.

Derartige Stilübungen seines Sohnes nahm der Herr Rath nicht ohne Wohlgefallen auf, vorausgesetzt, daß sie gereimt waren, sintemalen, wie wir ja wissen, reimlose Verse in seinen Augen gar keine waren. Unser liebenswürdiger Schlingel von Wolfgang gefiel sich aber auch in „anakreontischen“ Verschen, wie ja dazumal die Gleim und Consorten sie ebenso massenhaft als wässerig zwar nicht aus dem kastalischen Quell, aber doch aus der Holzemme, Saale, Pleiße und anderen seichten Flüssen schöpften. Zu solchen Versuchen hatte ihn die Wirklichkeit in Gestalt einer Charitas, eines Gretchens etc. „angeregt“, aber diese seine Versethaten dem Vater zu zeigen, hütete er sich wohl, natürlich nur, „weil sie reimlos waren“. Die in Rede stehenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_128.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)