Seite:Die Gartenlaube (1873) 129.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Anakreontika sind uns verloren. Dagegen ist uns eine geistliche Ode erhalten, welche zu Anfang des Jahres 1766 in dem Frankfurter Blatte „Der Sichtbare“ gedruckt erschien unter dem Titel „Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi, auf Verlangen entworfen von J. W. G.“ Das „Verlangen“ – so hat Goethe gemeint, als ihm sechszig Jahre später das vergessene Blatt wieder vor Augen gebracht wurde – sei von dem Fräulein von Klettenberg ausgegangen, und wir dürfen annehmen, daß die fromme Dame an diesen Höllenfahrtsgedanken höchlich sich erbaut habe. Uns dagegen, die wir „dem Teufel und seinen Werken“ vollständig entsagt haben, muthet es ganz eigen an, daß der liebe „große Heide“ seine Laufbahn mit der Paraphrase eines Lehrsatzes des christlich-kirchlichen Glaubensbekenntnisses begonnen hat, wenigstens schwarz auf weiß, öffentlich, letternmäßig documentirt begonnen hat. Diese Paraphrase dürfte schon um 1762 oder 1763 verfaßt, vor dem Drucke aber noch einmal überarbeitet worden sein. Eigenartiges ist gar nichts darin, nicht der leiseste Goethe’sche Ton. Die Ode geht in dem orthodoxen Pompschritt einher, welchen die geistliche Odendichterei der Klopstock’schen Schule schon zum conventionellen gemacht hatte. Der Inhalt ist Katechismuswaare. Dagegen fällt die Geschmeidigkeit und Energie des sprachlichen Ausdrucks, sowie die sichere und zwanglose Handhabung von Versmaß und Reim recht angenehm in das Ohr. Im Uebrigen müssen wir, wenn wir mit diesen jugendlich- und judentlich-christlich-orthodoxen Empfindungen des Dichters seine spätere Anschauungs-, Gefühls- und Denkweise zusammenhalten, unwillkürlich an seine Auslassung im „Prometheus“ denken:

„Als ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus noch ein.
Kehrt’ ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär’
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie mein’s,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.“

Derweil war auch die Berufsfrage an unseren Wolfgang herangetreten, die große Frage: „Was soll aus dir werden?“ auf welche das Schicksal in den meisten Fällen die Antwort giebt: „Nicht viel.“ Freunde des Goethe’schen Hauses, welche in dem Sohne desselben die großen Gaben unschwer erkannten und den schönen und liebenswürdigen Jungen liebgewonnen hatten, schlugen allerhand vor. Der Eine wollte ihn zum Staats- und Hofmanne, der Andere speciell zum Diplomaten, der Dritte zum Juristen erzogen wissen. Diese dritte Meinung ward energisch vertreten durch den alten Hofrath Huisgen, der in seinem pessimistischen Humor zum Wolfgang sagte:

„Werde ein firmer Jurist, Bursch, damit du dich und das Deinige dermaleinst gegen das Lumpenpack von Menschen regelrecht vertheidigen, item dann und wann einem Unterdrückten beistehen und allenfalls auch einem Schuft was am Zeuge flicken kannst.“

Möglich, daß zeitweise dem Wolfgang so eine Bestimmung nicht ganz uneben vorkam. Doch hat er im Stillen die lebhafte Absicht gehegt, sich für ein akademisches Lehramt tüchtig zu machen, zu welchem Zwecke ihm die damals gerade im gedeihlichsten Aufschwunge begriffene Universität Göttingen die richtige Bildungsstätte zu sein schien. Allein der Vater seinerseits bestand darauf, daß Wolfgang die Jurisprudenz zu seinem Berufsstudium wählte, in welches den Sohn einzuleiten er ja schon seit längerer Zeit nach Kräften sich bemüht hatte. Unser Reimer der Höllenfahrt Jesu Christi wußte hinlänglich viel von dem Ach und Krach zu erzählen, womit er sich durch die jurisprudenzlichen Katechismen und Compendien, die ihm der Vater vorlegte, durchgewunden. Aber er hatte sich durchgewunden und derohalben hielt Herr Johann Kaspar seinen Wolfgang, als selbiger sechszehnjährig geworden, für flügge genug, als Student auszufliegen. Von Göttingen jedoch wollte er nichts wissen, sondern bestand darauf, daß der Flug nach Leipzig gerichtet würde, allwo er ja selber ein zum kaiserlichen Rath qualificirter Rechtsmann geworden. Der Junge mochte denken, wie in gleicher Lage schon Tausende, Hunderttausende von gescheidten (oder auch dummen) Jungen gedacht haben und künftig noch denken werden: Bin ich nur erst Student, so wird sich das mir anstehende Studium (oder auch Nichtstudium) von selber finden.

In den ersten Octobertagen 1765 hob sich der sechszehnjährige Fuchs von dannen gen Leipzig, welche Stadt er gerade in einer ihrer Glanzperioden betrat, das heißt zur Meßzeit, deren buntes Getriebe und Gewühle ihm baß gefiel. Er nahm Wohnung im Hause „Zur großen Feuerkugel“, wo vor anderthalb Dutzend Jahren auch Lessing gewohnt hatte, wurde am 19. October immatriculirt und, weil die Leipziger Studentenschaft noch auf gut oder schlecht mittelalterlich in vier „Nationen“ eingetheilt war, in die bairische „Nation“ eingeschrieben.

Der akademische Flug hatte also begonnen und es ist zu sagen, daß sich derselbe keineswegs blos in den wohlanständigen und regelrichtig abgezirkelten Regionen bewegte, von welchen uns Se. Excellenz der Herr Geheimrath und Minister von Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ in gemessener Sprache zu berichten weiß. Im Gegentheil, sehr im Gegentheil! Die jetzt vorliegenden Briefe des Leipziger Studenten Goethe an verschiedene Freunde thun klärlich dar, daß unser in die feine Welt der Pleißestadt wie ein rechter rhein- und mainländischer Naturbursch hineingeplatztes angehendes Kraftgenie seiner neuen Freiheit und seiner auskömmlichen Geldmittel „in dulci jubilo“ sich erfreut habe. Wie, zeigt ungefähr ein Brief, welchen er schon einen Tag nach seiner Immatrikulation an einen Freund heimwärts schrieb und worin es unter Anderem also tönte: – „Ich mach’ hier große Figur und brauche Kunst, um fleißig zu sein. In Gesellschaften, Concert, Komödie, bei Gastereien, Abendessen, Spazierfahrten, so viel es um diese Zeit angeht. Ha, das geht köstlich! Aber auch kostspielig! Zum Henker, das fühlt mein Beutel. Halt! rettet! haltet auf! Siehst du sie nicht mehr fliegen? Da marschirten zwei Louisd’or. Helft! da ging abermals einer. Himmel! schon wieder ein paar Groschen sind hier wie Kreuzer bei euch draußen im Reiche. Aber dennoch kann Einer hier sehr wohlfeil leben und so hoffe ich des Jahrs mit dreihundert Reichsthalern auszukommen; notabene das nicht gerechnet, was schon zum Henker ist …“ Immerhin ist anzumerken, daß das Leipziger Studentenleben bei aller Ungebundenheit doch zahm und gesittet heißen konnte, verglichen mit dem wilden und wüsten Gebaren, welches der akademischen Bürgerschaft zu Halle, Jena, Gießen und anderwärts damals eigen war und von welchem unlange zuvor Zachariä’s „Renommist“ ein weit mehr abschreckendes als komisches Bild entworfen hatte. In Wahrheit, das „Klein-Paris“ Leipzig „bildete seine Leute“, wenn auch nicht gerade in seinen Hörsälen. Die reiche Handelsstadt mit ihrem großartigen Weltverkehr galt damals nicht ohne Grund für die Heimath der feinsten und vielseitigsten Bildung in Deutschland und das Studententhum mußte sich dem herrschenden Ton ebenfalls mehr oder weniger anbequemen. So auch unser Fuchs Goethe, obzwar er den Rappen so tüchtig laufen ließ, wie eben Füchse, denen der akademische Himmel noch voll Geigen hängt, zu thun pflegen.

Die Hörsäle der Hochschulen haben bekanntlich mit der Hölle das gemein, daß die Wege zu beiden mit guten Vorsätzen gepflastert sind. Unser sechszehnjähriger Springinsfeld war mit dem guten Vorsatz nach Leipzig gekommen, recht fleißig Sprachenkunde und Alterthumswissenschaft zu hören und zu treiben, um sich zur akademischen Docentenschaft zu befähigen. Statt aber ein fleißiger Student zu werden, wurde er binnen Kurzem ein „Phantast“, ein „Stutzer“, ein „Galan“, wie ihn einer seiner Frankfurter Freunde betitelte, welcher ihn im Sommer von 1766 in der Pleißenstadt sah. Es ist freilich wahr, daß der Geist oder Ungeist, welcher damals von den Leipziger und noch vielen andern deutschen Universitätskathedern herunter sogar die ordinärste Zuhörerschaft langweilte, unsern genialischen jungen Feuerkopf unmöglich anziehen, fesseln und anregen konnte. War doch die akademische Lehrthätigkeit zumeist nur Compendienableirerei. Bald war Goethe ein unregelmäßiger, dann ein unfleißiger, zuletzt wohl gar kein Collegienbesucher mehr. Denn nicht allein die juristischen, sondern auch die philologischen und archäologischen Vorlesungen gewährten ihm wenig oder gar keine Befriedigung. Ebenso Gellert’s Vorträge „über den Geschmack“, von welchen sich unser Student so viel versprochen hatte.

Dagegen gewährte ein Besuch, welchen Goethe gemeinsam mit seinem neugewonnenen Freunde und nachmaligen Schwager J. G. Schlosser bei dem alten Gottsched abstattete, wenigstens Erheiterung. Der gallomanische Pedant, welcher aber als Reiniger und Drillmeister unserer ganz verwildert, verwüstet und

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_129.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)