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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


dieser letzteren Gattung an; wer eine mannigfache und wechselnde Handlung in demselben sucht, eine Fülle von Abenteuern, welche die Phantasie in rastloser Beschäftigung und Aufregung halten, wird sich getäuscht fühlen; es fehlt auch nicht an jenen „Gesprächen“, welche „Caviar sind für das Volk“ und sich oft wie selbstständige Abhandlungen in die Erzählung der Begebenheiten einschieben.

Gleichwohl hat mich der Roman auf das Angenehmste überrascht! Sie wissen, verehrte Frau, daß ich ein Gegner der akademischen Richtung bin, der es nur auf die Eleganz und Schönheit der künstlerischen Form ankommt und die sich bei allen Völkern und Zeiten die Modelle für ihre Nachdichtungen sucht. Paul Heyse zeigte bisher eine starke Hinneigung zu dieser Richtung; viele seiner Dichtungen erinnerten dadurch an Porcellanmalereien auf einem Nipptischservice und machten den Eindruck sehr gebrechlicher Waare; und selbst in manchen gerühmten Novellen dieses Dichters fanden wir mehr zierliche Schönmalerei, mehr darüber gehauchte Grazie der Darstellung als innern geistigen Kern. Dies noli me tangere gegenüber allen Zeitfragen und dem geistigen Streben der Gegenwart gab seinen Helden und Heldinnen oft etwas statuenhaftes – „kalt und glatt wie Marmor“. In seinem neuesten Werk ist es anders. Man mag über die Berechtigung philosophischer Gespräche in Romanen denken, wie man will – daß in diesem Roman, dessen Held sogar seines Zeichens ein Philosoph ist, eine reiche Gedankenwelt sich enthüllt, daß Paul Heyse hier keine zeit- und weltfremde Haltung beobachtet, sondern Sympathien zeigt mit den bewegenden Geistesmächten der Gegenwart – das ist eine Thatsache, die gerade ich um so mehr hervorheben muß, je schärfer ich dem Gebahren der Akademiker entgegengetreten bin.

Der Roman ist „geistreich“ in dem besten Sinne des Wortes, nicht im Sinne des witzhaschenden Esprit, der mit Bienenstachel und Schmetterlingsflug auf Raub ausgeht, sondern er ist gedankenvoll, wichtigen Fragen des Geistes und des Lebens zugewendet und sich überall auf den Höhen einer freien Weltanschauung behauptend. Und dieser Geist spricht sich nicht in langweilig schleppender Weise mit breiter Lehrhaftigkeit aus, er hat eine feine und interessante Art sich zu geben, eine liebenswürdige Tournüre, eine meistens ethische Grazie und das ironische Lächeln der Tieck’schen Novellistik, welches auch der Freytag’schen Muse eigen ist. Freilich würde in diesem verdünnten Aether auf der Höhe des geistigen Strebens vielen Romanlesern und namentlich Romanleserinnen etwas beklommen zu Muthe werden, wenn der Dichter nicht wieder hinabführte in die traulicheren Regionen, wo das Lebensgeschick der Menschen sich abspielt. So wenig verwickelt auch diese Geschicke sind – der Dichter weiß doch eine Spannung zu erregen, die uns nie gleichgültig gegen den Fortgang der Handlung sein läßt; er interessiert uns für seine Helden und Frauen, und so folgen wir mit Antheil allem, was ihnen begegnet. Es sind in dem Roman reizende Stillmalereien, Schilderungen von großer Anschaulichkeit, von stimmungsvollem Hauche, Genrebilder von feingeistigem Humor, nicht rohe Abdrücke des wirklichen Lebens; hin und wieder herrscht auch die Kühnheit des Boccaccio in dem Ausmalen des Liebesabenteuers, sowie überhaupt der Pulsschlag einer unerschrockenen, aber stets graziösen Sinnlichkeit das ganze Werk belebt.

Die interessanteste Gestalt desselben ist jene Toinette Marchand, welche so lange das Gemüth und die Phantasie des Helden gefangen nimmt, und bei dem Wiedersehen nach längerer Trennung sein Leben mit einer bedenklichen Krisis bedroht. Sie hat etwas von einer Undine, einer Melusine – und es hat eine an diese Sagengestalten anklingende Bedeutung, daß Edwin sie belauscht, wie sie zu nächtiger Stunde in die kühlen Fluthen des Teiches taucht. Das Problem, das der Dichter mit dieser „seelenlosen Undine“ aufgestellt hat, ist ein durchaus anziehendes. Das Wesen „mit dem Märchenblut“ kann sich selbst mit einer Scheintodten vergleichen, die im Sarge liegt und sieht und hört, wer alles um sie her sich in Trauer und Liebe erschöpft, und mit aller Gewalt sich nicht rühren kann, den Weinenden die Hand zu bieten und zu sagen: ich lebe ja und habe euch lieb und will bei euch bleiben; sie ist ein Räthselwesen, dem die Unfähigkeit sich hinzugeben zur Qual wird. Sie weist die Hand des jungen Gelehrten zurück und heirathet den reichen Grafen, den sie nicht liebt. Der spannendste Theil des Romans ist das Wiedersehen zwischen der Gräfin und ihrem früheren Anbeter. Es ist eine tragische Ironie des Schicksals, daß gerade in mehreren Jahren einer lieblosen Ehe ihr Herz für eine hingebende Leidenschaft empfänglich geworden ist. Es giebt einen Dämon der Jungfräulichkeit, des spröden Unglaubens an das Glück, das die Liebe gewähren kann. Diesem Dämon war Toinette verfallen; mit dem Gürtel, mit dem Schleier riß dieser böse Wahn entzwei; sie lernte ein Glück verstehen, das in ihrer Ehe ihr versagt blieb. Da sieht sie Edwin wieder, und diese Undine hat plötzlich eine Seele gefunden: „Der Sargdeckel sprang, unter dem ihr Herz begraben lag; sie sinkt mit glühender Leidenschaft, mit schmerzlicher Seligkeit an das Herz des Geliebten; hier ist die einzige Stätte, wo sie ihr Glück finden kann.“ Doch es ist zu spät! Edwin hat ein liebendes und geliebtes Weib; der Sirenenzauber kann ihn stürmisch erregen, aber nicht dauernd fesseln. Toinette sucht dieses Weib auf; sie erkennt, daß es seiner würdig sei; ihr Leben ist verödet; sie sucht den Tod.

Das ist eine spannende Herzenstragödie, welche im Mittelpunkte des ganzen Romans steht. Die zweite Frauengestalt, welcher unsere Theilnahme sich zuwendet, ist Edwin’s spätere Gattin, Lea, die Tochter des „Zaunkönigs“, eines Malers, der von seiner Vorliebe für Vordergründe, Zäune u. dergl. vor seinen Namen den spottenden Zusatz erhielt. Lea ist jüdisches Halbblut, aber geistiges Vollblut, eine Berlinerin, bei deren Zeichnung dem Dichter wohl das Bild jener bedeutenden Jüdinnen vorschwebte, welche durch ihren geistreichen Verkehr mit namhaften Männern sich selbst einen Namen machten. Lea ist freilich eine einsame Denkerin, keine Beherrscherin eines geistfunkelnden Salons; doch Geist und Herz sind bei ihr von gleicher Tiefe. An stiller und unerwiderter Liebe siecht sie dahin; der Philosoph Edwin, der ihr durch die geheime Magie des gleichen geistigen Lebens und Strebens verbunden ist, wird ihr Retter und ihr Gatte.

Toinette und Lea sind Frauencharaktere, die in bedeutsamen Contrast gestellt sind, und wenn man in den Frauen etwas von den elementarischen Gewalten der Natur wiederzufinden meint, so könnte man jene mit dem Element des Wassers, diese mit dem des Feuers vergleichen. Die verzehrende Liebesgluth der Lea und die kühl ablehnende zweifelnde Neigung einer Toinette bilden in der ersten Hälfte des Romans einen fesselnden Gegensatz; man gewinnt aus dieser Gruppirung der Charaktere das Bewußtsein, daß der Dichter den Plan seines Werkes künstlerisch geordnet hat – ein wohlthuendes Gefühl gegenüber den wildwuchernden Phantasiegebilden der meisten Romane, welche verwahrlosten Gärten gleichen, wo die Blumen nicht blos auf den Beeten, sondern auch in den Gängen wachsen.

Die dritte interessante Frauengestalt ist die düstere Claviermeisterin Christiane. Daß ein Romanheld etwas von jener Unwiderstehlichkeit besitzt, durch welche die Don Juans aller Zeiten sich auszeichnen, das ist etwas so Hergebrachtes, daß sich jeder moderne Autor diese Ueberlieferung zu nutze macht. Wir dürfen uns daher nicht wundern, daß auch Christiane für den Helden Edwin eine stille und hoffnungslose Neigung besitzt. Sie verfällt indeß einem tragischen Geschick, indem sie das Opfer eines heuchlerischen Candidaten wird – eine Scene, die wir aus dem Roman fortgewünscht hätten, da er durch dieselbe in die grelle Beleuchtung französischer Sensationsromantik gerückt wird. Dieser allzu criminelle Zwischenfall, der Selbstmordversuch, die Lebensrettung der düsteren Christiane bilden freilich nur ausweichende Dissonanzen in einem Lebenslauf, der von dem Dichter noch zu harmonischem Abschluß geführt wird; einer seiner Helden besitzt Tapferkeit genug, um sich durch die unverschuldete Schmach der Heldin nicht abschrecken zu lassen, sondern sie an seinen häuslichen Herd zu führen und ihr Glück zugleich mit dem seinigen zu begründen.

Dieser tapfere „Mohr“ ist eines von den „Kindern der Welt“, von denen der Roman den Titel hat; wir bewegen uns in demselben in der zersetzenden Atmosphäre der Berliner Freigeistigkeit, die in früheren Jahren nach mehr als jetzt wie ein geistiger Duft über der preußischen Hauptstadt schwebte, während die deutsche Reichshauptstadt die „Farbe der bleichen Reflexion“ mit einem etwas gesunderen Aussehen vertauscht hat. Sie haben, verehrte Frau, gewiß von dem Verein der „Freien“ gehört,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_327.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)