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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

selbst, es zu hindern – da hatten sie es schon gethan. Das habe ich nicht gewollt; bei Gott, das nicht!“

Arthur wandte sich von ihm und zu einem der eben heraustretenden Ingenieure. „Nun, wie steht es?“ fragte er hastig.

Der Beamte zuckte die Achseln. „Die Maschine weigert sich, zu gehorchen. Noch haben wir nicht herausfinden können, woran es liegt, an der Explosion sicher nicht; sie kam fast eine Stunde später und die Schachtgebäude sind ganz unberührt davon. Die Beschädigung kam von Menschenhand; wir müssen heute Morgen trotz der sofortigen Untersuchung irgend etwas übersehen haben. Glückt es nicht, das Werk wieder in Gang zu bringen, so ist der sofortige Zugang in die Tiefe uns verschlossen, und die da unten sind rettungslos verloren, der Schichtmeister Hartmann mit!“

Er hatte bei den letzten Worten die Stimme erhoben und das Auge auf Ulrich gerichtet, der, Leichenblässe im Gesicht, stumm und regungslos dastand; jetzt aber zuckte er zusammen und machte eine heftige Bewegung vorwärts. Arthur vertrat ihm den Weg.

„Wohin?“

„Ich muß hinauf,“ keuchte der junge Steiger, „ich muß helfen. Lassen Sie mich los, Herr Berkow! Ich muß, sage ich Ihnen.“

„Sie können nicht helfen,“ unterbrach ihn Arthur bitter. „Mit den bloßen Armen ist hier nichts gethan. Zerstören konntet Ihr und uns die Gefahr verzehnfachen. Das Wiederherstellen überlaßt den Beamten! Sie allein können uns die Rettung ermöglichen und sie dürfen in ihrer Arbeit weder gestört noch gehindert werden. Lassen Sie den Raum absperren, Herr Director, und Sie, Herr Wilberg, schaffen Sie sofort die drei Gefangenen zur Stelle! Die Leute müssen doch wissen, wo sie Hand angelegt haben. Vielleicht können sie den Ingenieuren einen Fingerzeig geben. Eilen Sie!“

Wilberg gehorchte, und auch der Director machte Anstalt, die befohlene Maßregel auszuführen. Er fand keinen Widerstand dabei. Die Menge wußte, was jetzt von der Thätigkeit der Beamten abhing; sie gehorchte willig. Sie fühlten Alle etwas von der Wahrheit jener Worte, die Arthur einst der trotzigen Herausforderung ihres Führers entgegengeschleudert: „Versucht’s, wenn Euch das so sehr gehaßte Element fehlt, das Eueren Armen die Richtung, Eueren Maschinen die Triebkraft, Euerer Arbeit den Geist giebt!“ Hier waren Hunderte von Armen, Hunderte von Kräften zum Helfen bereit, und Keiner konnte den Arm heben, Keiner die Kraft einsetzen; die ganze Macht, die ganze Möglichkeit der Rettung lag in den Händen der Wenigen, die auch hier wieder den Geist herleihen mußten, um vielleicht noch Hülfe zu bringen, wo die Menge mitsammt ihrem Anführer nichts konnte als sich höchstens blind in einen gewissen Tod stürzen. Diese so gehaßten, so oft geschmähten Beamten! An ihnen hingen jetzt alle Blicke, um sie drängte sich Alles, wenn einer von ihnen sichtbar wurde; man hätte sie und ihre Arbeit jetzt geschützt um jeden Preis, wenn sie des Schutzes bedurft hätten.

Minute auf Minute verrann in ängstlichem, qualvollem Harren. Wilberg war längst mit den drei Gefangenen zurück, die man drüben im Hause in einem der Räume des Erdgeschosses eingeschlossen hatte. Die Leute wußten, was geschehen war; sie kamen in athemloser Hast, wie all die übrigen, um wie diese rathlos und verzweifelt dazustehen. Man bedurfte ihrer nicht mehr; denn der Grund der Stockung in der Maschine war bereits gefunden. Die Beschädigung erwies sich als unbedeutend und die sofortige Herstellung als möglich. Die Ingenieure unter Leitung ihres Vorgesetzten boten alle Kräfte dazu auf, während man draußen den Rettungsplan organisirte und Vorkehrungen zur Ausführung traf, während man immer wieder von Neuem und immer wieder vergebens versuchte, sich von der anderen Seite her einen Zugang in die Schachte zu schaffen. Die Gefahr hatte wie mit einem Schlage die gelösten Bande der Disciplin wieder fest geknüpft. Alles gehorchte und gehorchte besser und schneller, als je vor dem Ausbruche des Streites.

Aber mehr als alle Uebrigen leistete der Chef selbst. Ueberall war sein Auge, seine Stimme; überall wußte er einzugreifen, anzufeuern. Arthur besaß wenig oder nichts von den Kenntnissen und Erfahrungen, die gerade hier am Platze gewesen wären; man hatte den jungen Erben der Werke in der vollsten Unwissenheit dessen erzogen, was ihm am meisten zu wissen nöthig war; aber Eins besaß er, was sich nun freilich nicht erziehen und nicht erlernen läßt, das Genie des Befehlens, und das that hier gerade noth, wo der einzige Energische der Beamten, der Oberingenieur, drinnen bei den Maschinen festgehalten wurde und der Director und die Uebrigen, halb betäubt von dem schnellen Wechsel der Verhältnisse und von der Katastrophe selber, ungeachtet ihrer Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten doch alle Geistesgegenwart verloren hatten. Arthur war es, der sie ihnen zurückgab, der mit schnellem Ueberblick Jeden auf den richtigen Platz stellte und ihn dort anspornte, das Aeußerste zu leisten, dessen er überhaupt fähig war, der mit seiner Energie Alles fortriß und entflammte. Der so lange von seiner Umgebung und von ihm selbst am meisten verkannte Charakter des jungen Mannes hatte sich nie so glänzend bewährt wie in diesen Stunden der Gefahr.

Da endlich ertönte das schwer ächzende Geräusch, mit dem die Maschine zur Arbeit einsetzte; dann folgte ihr Schnauben und Stöhnen, anfangs noch stoßweise und unterbrochen, dann in regelmäßigen Zwischenräumen; das Werk hob und senkte sich mit dem alten Gehorsam. Der Oberingenieur trat zu Berkow; aber sein Gesicht war nicht heller geworden.

„Die Maschine gehorcht wieder,“ sagte er ernst; „aber ich fürchte, es ist zu spät oder zu früh zur Anfahrt. Der Dampf quillt jetzt auch hier empor; die Wetter müssen weiter vorgedrungen sein. Wir werden warten müssen.“

Arthur machte eine heftige Bewegung. „Warten? Wir haben schon eine volle Stunde gewartet, und an jeder Minute kann das Leben der Verunglückten hängen. Halten Sie es für möglich, den Förderschacht überhaupt zu passiren?“

„Möglich ist’s vielleicht; es scheint nur Dampf zu sein, der da aufsteigt; aber es riskirt Jeder sein Leben, der jetzt schon hinunter will. Ich würde es nicht wagen.“

„Aber ich!“ tönte Ulrich’s Stimme mit finsterer Entschlossenheit. Er war in dem Moment, wo die Maschine zu arbeiten begann, gewaltsam vorwärts gedrungen und stand jetzt bereits an der Förderschale.

„Ich fahre an!“ wiederholte er, „aber Einer nützt nichts da unten. Ich muß Hülfe haben. Wer geht mit?“

Niemand antwortete; Jeder schien zurückzubeben vor der Fahrt in den dampfenden Schlund hinab. Sie hatten es Alle gesehen, wie die Muthigen, die auf den anderen Zugängen einzudringen versuchten, zurücktaumelten oder niederstürzten, Lorenz lag noch besinnungslos da von einem Wagniß, das sein stärkerer Gefährte ohne Schaden überstanden hatte; aber diesem Gefährten jetzt auf einem Wege zu folgen, wo Umkehr und Rückzug fast unmöglich waren, die Kühnheit besaß Keiner.

„Niemand?“ fragte Ulrich nach einer Pause. „Gut denn, so gehe ich allein! Gebt das Zeichen!“

Er sprang in das Gefäß; aber plötzlich legte sich eine schmale weiße Hand auf den geschwärzten Rand desselben, und eine klare Stimme sagte fest: „Warten Sie, Hartmann! Ich begleite Sie.“

Ein Schrei des Entsetzens von den Lippen der sämmtlichen anwesenden Beamten beantwortete den Entschluß; von allen Seiten gab sich eine stürmische Opposition kund.

„Um Gotteswillen, Herr Berkow! Sie opfern nutzlos Ihr Leben. Sie können nichts helfen.“ So tönte es durcheinander in allen Tonarten des Schreckens und der Angst.

Arthur richtete sich empor; das volle mächtige Selbstbewußtsein des Herrn und Gebieters leuchtete aus seinen Zügen.

„Es geschieht nicht der Hülfe, es geschieht des Beispiels wegen. Wenn ich anfahre, folgt Alles. Sichern Sie uns hier oben nach Kräften die Rettung, Herr Oberingenieur; der Director mag draußen für die Ordnung sorgen. Ich kann für den Augenblick nichts weiter als den Leuten Muth geben, und das denke ich zu thun.“

„Aber nicht allein und nicht mit Hartmann,“ rief der Oberingenieur, ihn fast zurückreißend. „Wahren Sie sich, Herr Berkow! Es ist dasselbe Werk und dieselbe Begleitung, die Ihrem Vater tödtlich wurde – auch Ihnen könnte da unten mehr drohen, als nur die empörten Wetter.“

Es war das erste Mal, daß die Beschuldigung offen und laut vor all den Zeugen hingeschleudert wurde, und wenn sich auch Keiner von Diesen ihr anzuschließen wagte, ihre Gesichter verriethen, daß sie dieselbe im vollsten Maße theilten. Ulrich stand noch an seinem Platze, ohne Laut, ohne Bewegung; er widersprach nicht und vertheidigte sich nicht; nur das Auge hatte er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_335.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)