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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

No. 22.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Der Loder.

Eine Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid
1.

Es war so früh am Tage, daß es über den Wildkaiser hin eben grau zu werden begann; hie und da waren noch Sterne wie verglimmende Punkte sichtbar, und die Mondsichel stand hell in dem erbleichenden Nachthimmel; in den Wipfeln der Bäume, die den Lindhamerhof umgaben, zwitscherte der erste tagverkündende Laut eines Finkenmännchens, und aus den reifen Kornfeldern, die sich den Hügel hinunter zogen, tönte der leise Schlag einer Wachtel, die noch wie verschlafen den Gesang einzuüben schien, mit dem sie den Morgen zu begrüßen dachte. Auch in dem Hause selbst und in dessen Umgebung war es noch still und reglos – nur etwas seitwärts von dem Wohngebäude, am Fuße einer alten, aber in wunderbarer Frische prangenden Linde saß ein junger Bursche, der ein Stück Holz in der Hand hielt. Bald schnitzelte er emsig daran, bald starrte er vor sich hin, als ob er tief über seine Arbeit nachdenke, oder in derselben innehalte, um das Schauspiel des in aller Pracht aufsteigenden Sommermorgens zu betrachten.

Der Lindhamerhof war auch wie dazu auserwählt, eine Warte und ein Luginsland für die Ebene zu sein, die sich tief unter ihm zwischen der vielgewundenen grünen Mangfall und der braunen Glonn bis zum Bereich des Innstroms ausbreitet, fern umrahmt von den Felswällen des Gebirges von der Brecherspitze und dem Jägerkamm an bis zum Wendelstein und Kranzhorn und über die Kampenwand weg bis zu dem in blauem Dufte verschwimmenden Staufen. Der Hof lag auf einem breit vorspringenden, bequem ansteigenden, aber ansehnlichen Hügel, der, unten reich bewaldet, oben in eine schöne grüne Hochebene endete; es war erklärlich, wenn im Volke die Sage ging, auf der Höhe von Lindham habe zur Römerzeit ein Wartthurm, und in noch früheren Zeiten ein heidnischer Götzentempel gestanden, zu welchem die umwohnenden deutschen Urvölker von weit und breit herbeigekommen, um das große Jahresfest der Sonnenwende zu feiern. Dem Volke, das überall das Wunderbare sucht und liebt, war das wohl glaublich; wurde ja doch auch gar viel von der großen Schlacht erzählt, die in unvordenklicher Zeit unten in der Ebene geschlagen ward, welche zur Stunde noch das Mordfeld heißt und auf welcher jedes Jahr Pflug, und Grabscheit fremde Münzen, wunderlich geformte Waffen und Geschirrtrümmer und Menschengebein von ungewöhnlicher Größe zu Tage fördert. Auch dadurch ward die Sage unterstützt, daß unfern des Wohnhauses, kaum eine Schußweite hinter demselben ein Hain von etwa zwanzig Lindenbäumen stand, wie sie in solcher Größe, Anzahl und Schönheit von ähnlichem Alter nirgends in der ganzen Gegend anzutreffen waren. Die Bäume standen, als wären sie von kunstvoller Hand geordnet worden, um als Riesensäulen des natürlichen Domes zu dienen, der wie eine Kuppel sich aus den ineinanderstrebenden Zweigen und Kronen wölbte. In der Mitte des Haines an einer kleinen Erhöhung brach eine mächtige Quelle frisch und klar aus dem Boden und strömte in anmuthigen Windungen unter den Bäumen fort, durch den Rasen der Hochebene und an dem Hause vorüber. Auch diese Quelle spielte in der Sage ihre Rolle, denn an ihrem Ursprunge sollte der Altar des Götzentempels gestanden sein; jetzt war von Tempel und Altar keine Spur mehr zu erblicken, aber die Quelle war noch immer der Segen und das Kleinod des Hofes, von dem dessen Bestehen und Gedeihen abhing.

Der Lindhamerhof war nämlich nicht nur durch die Schönheit und Höhe seiner Lage ausgezeichnet, sondern auch durch die höchst eigenthümliche Beschaffenheit des Bodens, auf dem er erbaut war. Obwohl nämlich der Hügel, wie an seinem Fuße hie und da unter Wald und Gebüsch zu Tage trat, eine Unterlage aus sandsteinartigen Felsen hatte, bestand die ganze Anhöhe und Abdachung nach allen Seiten hin aus reinem Lehm und nur aus Lehm, so daß das Erscheinen oder Auffinden eines Steines zu den größten Seltenheiten gehörte und Alles, was man von solch festen Stoffen bedurfte, mühsam von unten heraufgebracht werden mußte. Auch fehlte in demselben alles Wasser, und die Lindenquelle war es allein, welcher Wiesen, Aecker und Bäume des Hochfeldes ihr Dasein verdankten. Aber auch über ihr waltete ein eigenthümliches Schicksal, denn nachdem sie ihren Lauf am Gehöfte vorüber beendet hatte, verschwand sie plötzlich in einer unansehnlichen Erdspalte, ohne irgendwo wieder zum Vorschein zu kommen. Diese Eigenthümlichkeiten hatten schon manchen kundigen Mann der Umgegend beschäftigt; man wußte sich das Entstehen eines so mächtigen, vereinzelten und von der Bodenbildung der Umgegend so völlig verschiedenen Lehmkegels nur dadurch zu erklären, daß in den ersten Zeiten der Erde zwei Strömungen einander begegneten und im langen wütenden Kampfe diese Scheidewand zwischen sich aufwirbelten und aufthürmten. Das Volk kümmerte sich um solche gelehrte Erörterungen nicht; ihm war es genug sich zu erzählen, daß der letzte Götzenpriester, als er gezwungen gewesen, den Tempel zu verlassen, den Bann über die Quelle ausgesprochen, Jedem solle

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_349.JPG&oldid=- (Version vom 26.8.2019)