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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


alles Dies producirt eine große Summe häuslichen Elends, selbst da, wo die Schlange des Mangels noch nicht die ohnehin schlaffen Glieder umringelt hat. Aber all’ die lebendigen Folgen dieser Ausnahmezustände, diese geschiedenen Weiber, diese in die Welt hinausgestreuten Kinder, diese Töchter, die ihren Vätern nicht nahen dürfen, und diese Söhne, die den Wohnsitz ihrer Mutter nicht zu kennen wünschen – sie sind meist nur die Producte einer vereinzelten Handlung, und die moralische Wirkung äußert sich demzufolge auch meist nur in einzelnen Handlungen, nicht in allgemeinen Zuständen. Ein solcher Schlag trifft hart, aber nicht nachhaltig; – die Steine, die aus einem Ordenskreuze herausgeschlagen worden, funkeln jeder in besonderer Fassung weiter und erinnern sich nicht mehr, daß sie einen gemeinsamen Glanz gestützt haben. Weit schlimmer, als dieses durch äußere Mißstände herbeigeführte Elend, ist, weil unausrottbar, der Jammer, der sich in die Seele des Unglücklichen einnistet, der ihm durch sich selbst und seine Empfindung reichlich Nahrung spendet und keines Anstoßes von außen her bedarf, um sich täglich zu zerfleischen. Gerade zu dieser Species der schon auf Erden Verdammten stellt der Künstlerstand im Allgemeinen, der der Schauspieler im Besonderen, das reichste Contingent. Es giebt da eine Menge von Leuten, die kein pflichtvergessenes Kind, keine entartete Tochter, keinen verlorenen Sohn zu beklagen haben, die von ihren Mitbürgern geachtet, von ihrer Familie zärtlich geliebt werden, und doch, sobald sie sich am Altare der Kunst die Finger versengt haben, einer nimmer ruhenden Geißel verfallen sind, welche sie, unbarmherziger als ihr bitterster Feind, selbst gegen sich schwingen. Das sind die Verkannten. Ich spreche hier nicht von der lächerlichen Sorte, die der Talentlosigkeit eine himmelanstürmende Bornirtheit paart – sie ist amüsant, sie amüsirt sich und Andere, und Nichts in der Welt, nicht einmal faulige Aepfel an den Kopf, würde sie in ihrer Unfehlbarkeit wankend machen können. Die Sicherheit dieser Herrschaften ist rührend; sie tragen das Verkanntsein mit einem gewissen Prunk zur Schau; mit Hohnlachen serviren sie es der Menschheit, die sich an ihrer Höhe nicht emporzuschwindeln vermag, bei jeder Gelegenheit, und der Gedanke, daß doch Einer im Publicum mit einem mißgünstigen Urtheile Recht haben könne, ist ihnen nie gekommen.

Es giebt in dieser Species wunderbare Exemplare, die, nachdem sie die Provinz lange gepeinigt, durch Protection oder Gunst des Zufalls in den Verband eines Hoftheaters gelangt sind und dort vom Publicum, das es doch nicht ändern kann, in dritten und vierten Rollen „hingenommen“ werden. Es kann nicht Jeder Consul sein; man braucht auch Lictoren, und unter Umständen kann ein braver Schauspieler im untergeordneten Fache dem Ganzen wichtiger erscheinen, als mancher nur im allerengsten Kreise trottirende „große Künstler“. Aber da kommt das Unglück mit dem „Verkanntsein“. Achtzig Procent dieser Gattung sind „Verkannte“.

Wenn der erste Held den „Egmont“ spielt, steht der „Verkannte“ in der ersten Coulisse und bemerkt, zu nahestehenden Choristen gewandt: „War ’ne Lieblingsrolle von mir,“ oder: „Hab’ ich auch oft in Bamberg gespielt“ – während er zwar nicht so laut, aber nicht minder vernehmlich hinzufügt – „aber etwas anders, wie Der.“ Er verliert sich schließlich so in Erinnerungen und Vergleiche, die sämmtlich zu Ungunsten des Darstellers ausfallen, daß er sein Stichwort überhört, herausgeschoben wird und nun als „Zimmermann“ oder „Seifensieder“ dem Hohngelächter des Publicums verfällt.

Dieses „fröhlich heiter wirkende Geschlecht“ ist eine unerschöpfliche Fundgrube für die Scherze der Collegen, denn „es fällt,“ wie man zu sagen pflegt, „auf Alles ’rein.“ Ihr Martyrium haben sich diese Leute selbst mit der Unfehlbarkeitskrone geschmückt; so sind sie ein Gegenstand der heitersten Seelenruhe für sich selbst und ein Object der Freude für das leidende Publicum. Von ihnen sei hier nicht die Rede, sondern von den Unglücklichen, auf denen die Qual, verkannt zu sein sitzt, wie der herrliche Geier mit dem ewigen Leberappetit, von jenen Unglücklichen, denen der Zweifelswahn unablässig in die Ohren bläst, bis das Trommelfell der Seele geplatzt ist und die Zweifel sich mit dem Zweifler auflösen in das Nichts, an dem nicht mehr zu zweifeln ist. –

In einem dürftig, wenn auch nicht verwahrlost ausgestatteten Zimmer ruht ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren auf dem altmodischen Sopha, das Haupt durch ein Kissen gestützt, von dessen tiefem Roth sich seine scharfen, erdfahlen Züge sonderbar abgrenzen. Die großen Augen blicken über die Zimmerdecke hinaus in’s Reich der Träume und zeigen ihm eine ganz andere Umgebung, als die, die in liebevoller Sorgfalt um ihn beschäftigt ist, – unheimliche kreisrunde Flecken von rother Farbe, die an den Wangenknochen zuweilen auftauchen, sind die Zeichen einer im letzten Stadium wühlenden Brustkrankheit. Hin und wieder zittert ein Fieberschauer durch die gebrochene Gestalt, und ein trockener Husten entwindet sich mit Anstrengung der Kehle. Aber sein Geist scheint diesem irdischen Leid schon vorausgeeilt; er muß schon in ungeahnten Wunderlanden umherpilgern, denn manchmal zuckt’s in den erschlafften Mienen wie ein Begeisterungsblitz empor.

Am runden Tisch vor seinem Schmerzenslager sitzen zwei Frauen, ihre Blicke unablässig auf den schon halb Entschlummerten gerichtet; die Eine, Ausgangs der Dreißig stehend, in ihrem noch immer schönen Antlitz die stillen, wenig auffallenden Spuren tragend, die stiller Kummer, der es verschmäht, der Welt aufzufallen, in seinem Gefolge trägt; sie blickt auf die alte silberne Taschenuhr, die vor ihr liegt, und zählt die Minuten, um den Kranken aus seiner Lethargie zu wecken und ihm Medicin zu reichen, obwohl die Hoffnung an deren Wirkung längst in ihr erloschen ist. Neben ihr eine junge frische Blondine von reizenden sanften Zügen, nur daß die Centifolien der Wangen durch Anstrengung und Nachtwachen zu Theerosen erbleicht sind. Gattin und Tochter sind’s, die mit tiefem Weh der Auflösung des ihnen theuersten Wesens entgegenblicken. Sie haben an seiner Seite nicht viel frohe und fast nie sorgenfreie Stunden verlebt, und doch concentrirt sich Alles, was der Schöpfer von Neigungsbedürfniß in ihre Seele gelegt, in diesem Unglücklichen. Denn wie es eine traurige Erfahrung ist, daß gerade in Theaterkreisen die Familienbande so leicht gelockert sind, so ist es auch eine unumstößliche, daß, wenn sie einmal dort Wurzeln geschlagen haben, sie ausdauernd in rührender Weise Elend und Tod zu überragen wissen. Diese zwei Frauen wissen, daß sie mit dem Tode ihres Ernährers auf ihre Arbeit angewiesen und nicht viel besser als Bettlerinnen sein werden, und doch vermag dieser Gedanke nicht einmal neben dem tiefen menschlichen Weh, das sie um den Geliebten empfinden, in ihnen lebendig zu werden.

„Wecke den Vater, Mama! Es ist Zeit.“

Die Mutter ergreift sanft den Arm des Starrliegenden; er fällt zurück – sie ruft ihn bei Namen; er hört nicht.

„Schlimm, schlimm, liebe Marie, wenn er jetzt nicht erwacht. Dann verbringt er später die ganze Nacht schlaflos und unter schrecklichen Schmerzen. Für diesen Fall hat der Arzt die Erneuerung der Schlafpulver angeordnet. Eile, mein Kind – es ist noch nicht so spät – schnell zur Apotheke!“

Marie erhebt sich, schlingt das dünne fadenscheinige Umschlagetuch über Kopf und Brust, huscht unhörbar von dannen und fliegt wie ein Elfenschatten an den Wänden der engen, schlechtbeleuchteten Gasse entlang.

Im Krankenstübchen ist es ganz still geworden, nur die unregelmäßigen Athemzüge des Kranken und der Pendelschlag der alten Uhr geben Kunde, daß hier noch etwas lebt. Die Mutter hat den Schirm der Lampe herabgelassen, der geisterhafte Schatten zur Decke sendet. Ein trübseliges Colorit zu einer trübseligen Scene; es ist, als wenn an der Decke dieses Zimmers ein Alp säße, der Jeden, der die Schwelle passirt, mit in seinen Bann zieht. Einen Augenblick hat die Mutter durch die trüb angelaufenen Fensterscheiben ihrer Marie nachgeblickt; dann kehrt sie zu ihrem Sessel zurück und versucht mechanisch, eine Handarbeit vorzunehmen. Vergebens! Wolle und Nadel entfallen den sonst so fleißigen Fingern – die Hände falten sich unwillkürlich; jetzt, wo Marie nicht zugegen ist, stehlen sich auch zwei große Thränen hervor; die Thränen, die nicht niederfallen, die die Wimpern nicht verlassen, wer sie geweint, der kennt sie, diese Thränen. Sie betet ohne Worte, ohne Gedanken; der dumpfe Hauch des Zimmers nimmt auch ihre Sinne gefangen, und gleich dem Kranken verfällt sie in wachen Starrsinn. So ist Alles im Zimmer starr. Es ist, als ob ein mitleidiger Geist in dem Elend, das da drinnen herrscht, einen Ruhepunkt schaffen wollte.

Plötzlich klingelt es heftig auf dem Corridor, und Alles im Zimmer schreckt empor. Die arme Frau fährt auf und reibt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_391.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)