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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Oper zu lesen war. Mein Entschluß war augenblicklich gefaßt. „Die Austrittsarie des Joseph,“ war meine schnelle Antwort. „Dort liegt die Partitur am Boden.“

Sogleich hob der Graf die Partitur auf und legte sie auf das Pult des Instrumentes. „Allons, Urspruch! Accompagnire dem Kleinen!“

Urspruch setzte sich, ohne ein Wort zu erwidern, an’s Instrument, schlug die Arie auf, und ich sang sie ohne alle Scheu. Meine Stimme schien Herrn Urspruch sehr zu gefallen, denn während des Accompagnements nickte er mehrere Male mit dem Kopfe, der Graf aber trippelte leise, sich die Hände reibend, im Zimmer umher. Nachdem die Arie beendet, rief er: „Sie bleiben bei mir!“ Er beehrte mich mit Lobsprüchen über meine Manier zu singen und nannte mich nach seiner Weise sogleich „Du“. „Charmant! Charmant!“ rief er ein über das andere Mal; „der Alvensleben hat doch keinen Mißgriff gethan. Hast Du den ganzen Joseph im Kopfe, mein Sohn?“ Als ich dies bejahte, sprang der alte Herr wie ein Jüngling im Zimmer umher, schlug Urspruch etwas sehr unsanft auf die Schulter und rief: „Na, dann heraus mit dem Joseph! Du singst den Simeon, die Stein singt den Benjamin, der Kleine hier den Joseph, Riese den Jakob, nota bene, wenn er nicht besoffen ist.“ Dieser Riese gehörte früher, zu Spontini’s Zeiten, der Berliner königlichen Oper an; er hatte eine prachtvolle, kolossale Baßstimme, die er leider gar zu oft unter Spiritus setzte. Plötzlich ließ der Graf ein zorniges Recitativ erschallen: „Wo bleibt der verdammte Knüpfer mit Bibliothek, Garderobe und Moneten?“ Der Graf hatte seinen Gläubigern in Magdeburg, wo er vor Altenburg war, Bibliothek und Garderobe als Pfand zurücklassen müssen. Dieser so besungene Knüpfer war das Factotum des Grafen, das von ihm nach Lübeck gesandt, um das auf den Strand gerathene Schiff wieder flott zu machen.

Ehe ich zum Auftreten kam, lernte ich sämmtliche Mitglieder der gräflichen Gesellschaft kennen, unter denen ich später eminente Talente fand. Besonders zeichnete sich die Gattin des Herrn Urspruch aus; obgleich eine lorbeerumrankte Ruine, war sie zu jener Zeit noch eine ganz vortreffliche dramatische Sängerin. Sehr begabt war ein Fräulein Emilie Handstein; sie spielte jugendliche Liebhaberrollen. Das Geschick war ihr nie hold. Als eine Frau Pfister fand ich sie später soufflirend bei verschiedenen Bühnen wieder. Bost, der gegenwärtig noch der königlichen Bühne in Berlin angehört, war damals schon ein vorzüglicher Baßbuffo und spielte viel im Lust- und Schauspiel; er war für das Unternehmen des Grafen eine sehr schätzbare Acquisition.

Endlich sollte ich den vom Grafen mit Sehnsucht erwarteten Knüpfer von Angesicht zu Angesicht kennen lernen. „Knüpfer ist da! Knüpfer ist da!“ so ging es von Munde zu Munde, und mit ihm Garderobe, Bibliothek und, was das Beste war, Geld! Dieser Herr Knüpfer wird mir unvergeßlich bleiben. Er war das Urbild eines echten Komödianten. Relegirt von irgend einer Universität, hatte er zu Thaliens Fahne geschworen, that jedoch in ihrem Tempel nur Laiendienste, seine Garderobe, die er mit einem großen Stolz trug, bestand aus einem schwarzen Sammetrock, der mit Schnüren besetzt war und so abgeschabte Flächen zeigte, daß man füglich die Sammetweberei daran studiren konnte; dazu trug er stets weiße Tricots, die gar oft mit ihrer Farbe im Zwiespalt waren und die sich in ungeheure Kanonenstiefeln mit klingenden Sporen verloren. Sein bemoostes Haupt zierte ein schwarzes ramponirtes Sammetbarett, das Abends, hatte er einen Ritter zu mimen, mit einer einmal weiß gewesenen Feder geschmückt wurde. Dergleichen Gestalten, wie die eben beschriebene, sah man damals nicht selten beim Theater; jetzt sind sie unmöglich geworden.

Endlich hörte bei Allen das dolce far niente auf. Der Graf entwickelte eine ungeheure Thätigkeit; überall sah man ihn hämmern, malen, kleben, Costüme zertrennen, sogar mit dem Garderobeschneider nähen; kurz, er war in seinem Elemente.

Die erste Vorstellung war der Joseph in Aegypten; sie übertraf die Erwartung des Publicums und des Hofes. Noch einmal tauchte ein Theil jener alten Prachtliebe des Grafen auf. Decorationen und Costüme waren glänzend. Das Arrangement des Triumphzuges leitete Graf Hahn selbst. Nach der Vorstellung ließ ihn der Herzog von Altenburg durch einen Kammerherrn in seine Loge rufen, um ihm seine Zufriedenheit auszudrücken.

Ritter- und Zauberstücke beherrschten von nun an das Repertoire. Selten kam eine Oper zu Stande. Bengalische Flammen leuchteten; Feuerwerk prasselte, wo es nur anzubringen war; Graf Hahn ließ es sich nicht nehmen, dasselbe anzuzünden.

Wie all dieser Teufelsspuk nicht mehr so recht ziehen wollte, entschloß sich der Graf, selbst aufzutreten. Er spielte den Herrn von Langsam in Kotzebue’s „Wirrwarr“. Mit ihm spielte der geniale, leider schon damals sehr verkommene Karl Unzelmann den Fritz Hurlebusch. Nie sah ich diese Rolle wieder so meisterhaft spielen. Um Unzelmann nüchtern zu erhalten, ließ ihn der Graf nicht aus den Augen. Jedes Glas Schnaps wurde sogleich entfernt, wenn er nahte. Dieser Vorsicht verdanken wir die herrlichste Kunstleistung. Auch spielte ferner der Graf den Thomas im „Geheimniß“; beide Rollen hatte er früher dem großen Unzelmann, Vater des Karl Unzelmann, abgelauscht. Graf Hahn gefiel dem Publicum ausnehmend, doch der Hof billigte diese Debuts durchaus nicht. Der Herzog äußerte dem Grafen gegenüber sein Mißbehagen, einen Grafen Hahn Komödie spielen zu sehen. Doch dies genirte den Grafen sehr wenig. – Eines Abends spielte er in dem Spectakelstück „Napoleon’s Anfang, Glück und Ende“ einen französischen Marschall. Bei seinem Auftritt sollten zwei Kanonenschüsse fallen. Als er auf sein Stichwort wartend an der Thüre stand, bemerkte er den Inspicienten, wie derselbe sich bereit machte, zwei Pistolen in ein leeres Faß abzuschießen, um so eine stärkere Detonation zu ermöglichen. Schnell entreißt er dem erschrockenen Inspicienten die Pistolen und hält sie gravitätisch, zum Abdrücken bereit, in’s Faß. „Jetzt, Herr Graf!“ ruft der das Scenarium führende Inspicient. Der Graf drückt los; beide Pistolen versagen. Ohne sich im Geringsten dadurch aus der Fassung bringen zu lassen, öffnet er schnell die Thür, macht, indem er die Bühne betritt, eine halbe Wendung und ruft nach rückwärts in die Scene: „Bum! Bum! Majestät, der Feind rückt an!“ Das Publikum bricht in ein wieherndes Gelächter aus, selbst der große Franzosenkaiser, der auf der Scene stand, vermochte vor Lachen keine Silbe mehr hervorzubringen.

Unzelmann trieb, in Altenburg sich selbst überlassen, einen solchen Unfug, daß sich die Behörde veranlaßt sah, den täglich betrunkenen Menschen per Schub aus der Stadt zu schaffen, was dem Grafen, obgleich Unzelmann nicht mehr zu retten war, sehr nahe ging. Ueberhaupt hörte die Herrlichkeit in Altenburg bald auf. Die Theatersaison ging ohnedies zu Ende. Ich kann nicht umhin, noch eine sehr komische Episode hier einzuschalten, die sich noch mit dem oben erwähnten Karl Unzelmann kurz vor Schluß der Saison ereignete.

Die letzte Oper in der Saison war „Romeo und Julia“. Vor Anfang der Probe zur genannten Oper stand das ganze Personal vor dem Theater um den Grafen geschaart, seinen Erzählungen zu lauschen. Graf Hahn, in Mitte einer seiner Erzählungen die schwarze Hornbrille auf seine Sokratesstirn schiebend, zeigte mit dem Finger auf den Weg nach Borna hin. Plötzlich rief er: „Alle Wetter, was giebt es da!?“ Alles sah nach der vom Grafen angegebenen Richtung. Ein Gensdarm hoch zu Roß, umgeben von einer Schaar Menschen, führte am Steigbügel gebunden einen Menschen als Arrestanten mit sich. Als sich uns diese seltsame Karawane näherte, brüllte eine mächtige Stimme aus dem Menschenhaufen: „Herr Graf, retten Sie mich! Man arretirt mich als Mordbrenner!“ Alle erschraken. Der Arrestant war Karl Unzelmann. Nachdem der Graf den vernichteten Unzelmann einigermaßen beruhigt hatte, fragte er den Diener des Gesetzes, wie er dazu käme, den Mann zu verhaften? Darauf erwiderte der Gensdarm sehr höflich: „Ja, sehen Sie, mein Herr, der Mensch hier heißt Moor.“ – „Unzelmann heiße ich!“ brüllte der geknebelte Mime, doch der Gensdarm fuhr in seinem Berichte unverdrossen fort: „Sehen Sie, mein Herr, der Lump hier ist Ihnen ein Mordbrenner, den ich von Borna nach Altenburg zu transportiren habe.“ Und damit zog er mit dem verzweifelten Unzelmann unter dem Jubel der Straßenjungen dem Stadtgefängnisse zu. Die Arretirungsgeschichte Unzelmann’s löste sich auf eine höchst komische Weise.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_471.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)