Seite:Die Gartenlaube (1873) 472.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Unzelmann hatte sich unweit Borna in einem Kruge betrunken und fing in seinem Rausche mit den ebenfalls angeheiterten Bauern Händel an. Die Bauern setzten den schimpfenden Mimen ohne Weiteres an die Luft. Erzürnt über seine schnelle Beförderung, schrie er von draußen den tobenden Bauern zu: „Hallunken! Wißt Ihr, wer ich bin? Moor bin ich! Karl Moor, Räuber und Mordbrenner! Ich zünde Euch Eure Baracken über den Köpfen an.“ Und damit taumelte er von dannen, um sich irgendwo ein Plätzchen zu suchen, seinen Rausch auszuschlafen. In derselben Nacht bricht zu des Mimen Unglück in der Nähe ein Feuer aus. Sofort wird von den Bauern auf den Räuber Moor eifrig gefahndet. Endlich finden sie unsern Mimen in tiefem Schlummer in einer Scheune liegen. Der Ortsschulze rüttelt den Schläfer etwas unsanft und fragt. „Sie da, mein Gutester! Heißen Sie Moor?“ Karl Unzelmann, noch im Dusel, springt sofort auf und ruft: „Ja wohl! Räuber und Mordbrenner!“ Ehe er sich’s versah, war er gebunden und dem Amte in Borna übergeben.

Graf Hahn befreite Unzelmann, nachdem er fünf Tage als Räuber Moor im Stadtgefängniß gefangen gesessen, aus seiner Haft, indem er dem Herzog von Altenburg die Arretirung Unzelmann’s mittheilte, der herzlich über die Geschichte lachte und den Befehl gab, Unzelmann in Freiheit zu setzen und ihm ein Reisegeld unter der Bedingung zu geben, nie wieder Altenburg mit seiner holden Gegenwart zu beglücken. Das Ende dieses so reich begabten Künstlers war ein höchst tragisches. Einige Jahre später fand man die Leiche Unzelmann’s im Goldfischteich des Berliner Thiergartens.

Nachdem in Altenburg die Theatersaison beendet, verließ ich den Grafen, um in Schwerin ein Engagement als lyrischer Tenor anzutreten. Doch interessierte mich das Leben und Treiben des alten liebenswürdigen Herrn so sehr, daß ich mir von demselben stets Nachricht zu verschaffen wußte. Von Altenburg wanderte er mit dem Stamm seiner Gesellschaft nach Gera, Chemnitz, Erfurt etc.

Im Jahre 1837 übernahm Graf Hahn abermals das Theater in Altona. Dort erkranke er und entließ demnach seine ganze Gesellschaft, lebte nach seiner Genesung theils bei seinem Sohn in Neuhaus, oder hielt sich, wenn er Theatersehnsucht bekam, in Lübeck auf, wo er dann an der artistischen Leitung des Stadttheaters sehr regen Antheil nahm; denn hier konnte er seinen seltsamen Passionen, Statisten zu schminken, den Souffleur zu spielen, zu donnern und zu blitzen, bei Zügen als Anführer zu figuriren, die Jungen von der Bühne zu treiben, die sich dort eingeschlichen, so recht den Zügel schießen lassen.

Das Schicksal wollte es, daß mich der Graf Hahn von Königsberg in Preußen aus im Jahre 1842 zum zweiten Male engagirte. Er hatte das Kieler Stadttheater übernommen. Als er mich in’s Zimmer treten sah, sang er aus Weigel’s Schweizerfamilie mir entgegen: „Ich habe Dich wieder – noch glaub’ ich es kaum“, drückte mir dabei herzlich die Hand und gab mir eine feine Havannacigarre, die er stets für ganz besondere Gäste bereit hielt. Er selbst aber rauchte noch immer aus dem mir bekannten Meerschaumkopf. Ich fand den alten Herrn trotz seiner Gicht, die ihn eben plagte, sehr heiter und wohl, ja unverändert. Nun mußte ich ihm meine ganzen Erlebnisse erzählen; denn er fragte, wo ich während unserer Trennung überall gespielt habe, erkundigte sich nach diesem oder jenem Schauspieler, der einmal bei ihm engagiert gewesen etc. Die Gicht plagte damals den alten Herrn so, daß er nicht im Stande war, sich vom Platze zu regen. Nachdem wir noch ein Weilchen geplaudert, brach er mit einem Male kurz die Unterhaltung ab und sang nach seiner gewohnten Weise:

„Reiche mir einmal das Glöckchen, mein Sohn!“

„Erlauben Sie, daß ich läute?“ erwiderte ich.

„Nein, mein Sohn, das verstehst Du nicht. Die Bande da draußen ist nach Commando von mir dressirt. Sieh Dir einmal das Glöckchen an. Es hat keinen Knöpfel. Schlage ich mit dieser Scheere nur einmal an dieses Aladinsglöckchen, so kommt mein Theaterdiener Kramer, ein prächtiger Junge, sage ich Dir! zweimal, meine Haushälterin, die Schmidtchen; dreimal, Schlawittzer.“ Darauf berührte der Graf das Glöckchen dreimal mit der Scheere. Kaum waren die hellen Töne verklungen, so öffnete sich eine Thüre und herein schritt ein Männchen mit eingekniffenen Mundwinkeln, wie wenn es Essig verschluckt hätte, und fragte mit schnarrendem Tone, sich katzenartig dem Grafen nähernd:

„Was haben Erlaucht zu befehlen?“ Dabei streifte sein schielender Blick meine Wenigkeit.

„Das hier ist unser neuer Tenor,“ und indem er sich freundlich nickend zu mir wandte, sagte er: „Mein Sohn, das ist Schlawittzer, mein Factotum. Den Knüpfer hat der Satan geholt. Er war ein liederlicher, undankbarer Mensch. Dieser hier, sein Nachfolger, ist mein Secretair, Hausmakler, Regisseur und Bösewichtspieler.“

Dieser Herr Schlawittzer machte auf mich einen höchst unangenehmen Eindruck. Noch ehe wir ein Wort gewechselt, waren wir Feinde. Ich hatte mich nicht getäuscht, denn später lohnte er des Grafen Güte mit dem bittersten Undank.

Graf Hahn fing nun in Kiel an, seine ganze Thätigkeit zu entwickeln. Was hätte dieser Mann in der Welt für eine Rolle spielen können! Geburt, körperliche und geistige Anlagen, eine seltene Bildung und zu alledem ein fast unerschöpfliches Vermögen berechtigten ihn dazu, wie wenig Andere. Seine Welt waren nun einmal die Bretter, die die Welt bedeuten. Durch sie, für sie, auf ihnen zu wirken, erschien ihm die Mission seines Lebens und um diese zu erfüllen, war ihm kein Opfer, keine Erniedrigung in den Augen der Welt zu groß.

„Ich vollbringe das, wozu mich Gott berufen – auf Dank habe ich nie gerechnet und werde es auch nicht thun,“ sagte er oft.

O Ironie des Lebens! Eben für das, wofür sich Graf Hahn berufen fühlte, woran er Alles setzte, wofür er kämpfte, litt, duldete, um dessen willen er sich mit seinen Verwandten verfeindete – besaß er die allerwenigste Begabung. Er war nichts als ein leidenschaftlicher Dilettant in der Schauspielkunst. Von Goethe’s Dramen schätzte er nur den „Götz von Berlichingen“ wegen der vielen Verwandlungen und Gefechte, die darin vorkommen. Schiller’s „Jungfrau“ gab er nur des Krönungszuges wegen. Denselben zu arrangiren war sein Stolz, seine Lust. Allem aber zog er den „Freischütz“ vor, nicht der Musik, sondern der Wolfsschlucht wegen; für die Ausstattung desselben opferte er vieles Geld.

Wahrhaft rührend erschien es, daß der Graf Hahn in den kärglichsten Verhältnissen auch nicht einen Augenblick an der Wahrhaftigkeit seiner Mission den mindesten Zweifel hegte, denn einst sagte er zu mir in einer drückenden Situation. „Ich kann doch mit Heine sagen: Ich habe ein schönes Leben gelebt.“

Nun fing der Graf an, Vorbereitungen zu einem großen Unternehmen zu treffen. Niemand von uns wußte, was er vorhatte, selbst Schlawittzer nicht, und das wollte viel sagen. Während nun Garderobe angefertigt wurde, verreiste er sehr oft; Niemand wußte, wohin. Endlich offenbarte sich das Geheimniß. Der Graf hatte das Actientheater auf St. Pauli in Hamburg gepachtet. Dort sollte noch einmal ein matter Stern seiner ehemaligen Größe leuchten. Es wurden die bedeutendsten Opernkräfte engagirt. Der Chor wurde vervollständigt, die berühmte Balletgesellschaft Kobler gewonnen, kurz, der Graf wollte dem Stadttheater in Hamburg, damals unter Cornet’s und Mühling’s Leitung, Concurrenz machen.

Wenige Tage vor seiner Abreise von Kiel erhielt er plötzlich die Nachricht, daß der König von Dänemark der Stadt einen Besuch machen wolle. Ueber diese Nachricht war der Graf hocherfreut und nahm sich vor, in seinem Theater etwas Großartiges zu veranstalten und dazu die Majestät von Dänemark einzuladen. Er wählte den „Wasserträger“ von Cherubini.

Als der König eingetroffen, begab sich Graf Hahn in voller Galauniform, geschmückt mit Orden und Kammerherrenschlüssel, auf’s Schloß, um den König zu bitten, sein Theater mit dero hoher Gegenwart zu beglücken. Als der König den Grafen gewahrte, rief er:

„Ah sieh da, Graf Hahn! Treiben Sie sich denn immer noch mit Ihren Komödianten umher? Lassen Sie doch endlich einmal die verdammte Theaterwuth fahren und gehen Sie zu Ihrem Sohne nach Neuhaus, um dort Ihre Tage in Ruhe zu verleben!“

Darauf erwiderte Graf Hahn: „Majestät, mein einziger Wunsch ist, dermaleinst auf der Bühne zu sterben.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_472.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)