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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Manifest bei seinem Einmarsche in Sachsen, in welchem er sagte, er wolle dieses Land nur zu seiner Sicherheit während seines Krieges gegen Oesterreich in „Depôt“ nehmen, hätte thatsächlich schon durch das gewaltsame Gebahren der einrückenden preußischen Colonnen gegen die Bevölkerungen der Städte und Dörfer so viele Widersprüche erlebt, daß Niemand an die preußische Sammethand glaube, die es abgefaßt. Die allgemeine Meinung gehe dahin, das Beste an dem Manifeste bestehe darin, daß es sich gut lesen lasse, damit sei aber auch Alles gesagt, und was die Zukunft bringen werde, müsse man erst sehen. Ein Pröbchen von dieser Zukunftserrungenschaft habe er, der Gevatter Gärtner, mit eigenen Augen gesehen, als er den Leipziger Weinkeller verlassen. Ein Trupp preußischer Soldaten habe einen der königlich sächsischen Jagdjunker in der Pirnaischen Gasse verfolgt, der sie sich mit gezogenem Hirschfänger vom Leibe gehalten und sich glücklich in eines jener alten Häuser gerettet habe, deren Hintergebäude auf einer andern Gasse einen Ausgang besäßen.

„Welches Glück, daß wir zuverlässig wissen, Doris’ Bruder sei bei unseres Königs Majestät im Lager!“ sprach die Frau Castellanin. „Da Er, Herr Gevatter, den von den preußischen Soldaten Verfolgten mit eigenen Augen gesehen hat, so wäre es thöricht, wollten wir uns um den Junker Willi kümmern und grämen, obschon ihm tolle Streiche zuzutrauen sind. Wie käme er auch aus dem Lager hierher? Ist ja nicht denkbar.“

„Nun, Frau Gevatter, das wäre das Wenigste. Dem Junker Willi sieht ein Ritt ventre-à-terre mitten durch die preußische Vorpostenkette gar nicht unähnlich. Bei solchen Sprudelköpfen, wie Der einer ist, gehört das Abenteuerlichste so recht in die eigenste Natur hinein; aber da ich den von den Soldaten – Gott weiß, wegen welchem Conflict – Gehetzten mit eigenen Augen, wenn auch nicht sein Gesicht, sondern nur seine Figur gesehen habe, so dürfen wir uns keine Angst des Willi’s wegen machen. Kenne ihn ja genau. Täuschung ist da gar nicht möglich. Hm, war unserer gnädigsten Frau Gräfin Protégé. Sie hat seine Reitkunst oft bewundert. Es gab keinen Hengst, und wär’s der widersetzlichste, unbändigste gewesen, den er nicht so zusammengeritten hätte, daß er lammfromm wurde. Deswegen hat ihm unsere gnädigste Frau Gräfin auch den Cäsar geschenkt, ein Capitalpferd, das keinen andern Reiter als ihn im Sattel duldet. Wie verschieden Geschwister doch sind! Fräulein Doris ist so sanft, so still …“

„Stille Wasser sind aber tief, Herr Gevatter,“ fiel die Castellanin ihm in’s Wort. „Sie macht freilich nicht viel Wesens von sich und ist die Sanftmuth selbst; aber das geringste Unrecht, wenn es auch nur Andere trifft, empört sie, und ehe man es sich versieht, lodert sie in Feuer und Flamme auf.“

„Wo ist sie denn?“ fragte Jener.

„Oben im Dachkämmerchen … da liest sie, zeichnet und stickt. Ist mir sehr lieb, daß ihr das Dachkämmerchen so sehr gefällt. Habe große Sorge gehabt, daß sie es abscheulich finden werde, und zu meinem Erstaunen ist’s gerade das Gegentheil. Mir ist’s ganz recht, habe da einen Kummer weniger.“

„Ja, wie verschieden der Gusto ist!“ stimmte Jener bei.

Thaddäus kam mit der Meldung an’s Fenster, die Auffahrt sei vorüber, die letzte Equipage abgefahren.

„Da gehst Du also mit mir hinüber und trinkst Deinen Kaffee,“ commandirte seine würdige Großmutter, und der Gevatter Gärtner erklärte, dasselbe thun zu wollen. Dann verließen Beide, weil sie zusammen in dem andern Hause wohnten, die Frau Castellanin, welche Herrn Nehemia einlud, seinen Kaffee bei ihr einzunehmen, was der treffliche Heiduck für eine große ihm zu erweisende Ehre ansah und deshalb wohlgefällig seine strammen Schenkel streichelte.

„Später, Herr Nehemia, spüre Er einmal drüben im Palais herum, ob der König ausgeritten … geschieht ja vielleicht wie gestern und vorgestern heute wieder zur Nachmittagszeit. Will die Fenster von der Martha abreiben lassen. Es soll nicht heißen, daß die Preußen im Palais Mosczynski schmutzig gesessen hätten. Die Ehre unserer gnädigsten Gräfin kommt da in’s Spiel.“

Herr Nehemia war vollkommen damit einverstanden.

Während der Gevatter Gärtner und die Bettfrau mit ihrem Enkel in das andere Haus hinübergingen, saß Fräulein Doris von Liebenau in dem schon erwähnten Dachkämmerchen über der Wohnstube der Frau Castellanin. Es schien in der That eine seltsame Laune der jungen Dame, den durch nichts anheimelnden Aufenthalt in einer engen Dachkammer, deren Wändeanstrich ein sehr vergrautes Kalkweiß zeigte, angenehm zu finden, und würde auf deren Schönheitssinn einen bedeutenden Zweifel geworfen haben, wenn sie wirklich an diesem engen unschönen Raume ein Wohlgefallen gefunden hätte. Indeß Dem lag etwas ganz Besonderes zu Grunde, was für jeden Anderen ein Geheimniß blieb, und zwar ein Geheimniß ihres jungen Herzens.

Wenn sie an dem kleinen Schiebefenster dieser Kammer saß, konnte sie nämlich durch einen schmalen Raum, den die vielzweigigen Aeste der Bäume in gerader Richtung freiließen, die unverkümmerte Ansicht des Palais genießen, und dies war der Grund, daß sie diese lange Schlippe, wie die Magd Martha die Kammer nannte, als ganz passend für sich zum ungestörten Lesen, Zeichnen und Sticken fand.

Als sie zum ersten Mal, um einen Raum für sich allein in dem niedrigen Hause zu suchen, an das Schiebefenster trat, sah sie zu ihrer größten Ueberraschung drüben am Portal, wo die beiden Schildwachen auf- und niederschritten, einige Officiere stehen, und ihr helles, scharfes Auge unterschied sogleich Einen unter ihnen, den sie kannte und dessen sie oft gedachte. Vor einem Jahre hatte sie mit ihrem Bruder Willi, dem königlichen Jagdjunker, mit Erlaubniß der Gräfin Mosczynska, eine Reise nach Berlin gemacht, wo die einzige Schwester ihrer lange schon verstorbenen Mutter lebte, eine sehr bemittelte Dame, welche beide Geschwister zu ihren Erben eingesetzt hatte.

Es konnte nicht fehlen, daß eine so hübsche junge Dame, welche zur Herrin eines für damalige Begriffe ganz erheblichen Vermögens von fast zwanzigtausend Thalern geworden, eine bedeutende Anziehungskraft auf heirathslustige Cavaliere ausübte, und so kam es, daß kurz vor ihrer Abreise nach Dresden Doris und ihr Bruder zum Besuche einer Gesellschaft geladen wurden, den sie nicht abschlagen konnten. Es waren auch mehrere Officiere in der Gesellschaft, und einer derselben machte durch seine edle Persönlichkeit und durch die gebildete Weise seiner Unterhaltung mit ihr einen sehr guten Eindruck auf sie. Er besaß nichts von dem anmaßenden Wesen seiner Cameraden und ward ihr von ihrem Bruder Willi ganz besonders empfohlen als ein wahrhafter Cavalier. Es hätte dieser Empfehlung nicht bedurft, denn im Stillen gestand Doris es sich zu, daß dieser Herr Major ihr außerordentlich gefiel, und freute sich der Bemerkung, daß seinerseits auch derselbe Fall in Bezug auf sie stattfand. Die Liebe hat Fühlhörner, die jede seelische Berührung schnell empfinden und sie dem Herzen und Gemüth mit der Schnelligkeit des Blitzes mittheilen. Es schien, als ob der Major einem solchen blitzähnlichen Durchzucken eines derartigen Gefühls ebensowenig wie Doris widerstehen könne. Dieses stille Gefallen aneinander wurde durch einen Hauptmann auf häßliche Weise gestört. Durch bedeutenden Weingenuß erhitzt, suchte er den Major aus Doris’ Nähe wegzudrängen, weswegen Dieser ihn daran erinnerte, daß es besser für ihn sein werde, wenn er für diesen Abend die Gesellschaft schleunigst verlasse, denn er befinde sich in einem Zustande, wie er für keinen respectablen Officier passe. Die Folge dieser Warnung war ein Duell, das, am andern Morgen auf Säbel ausgefochten, dem Major eine leichte Armwunde, dem Hauptmann aber einen Hieb über den Kopf eintrug, der, da er ihn längere Zeit dienstunfähig machte, als ein Sturz mit dem Pferde im Rapport gemeldet wurde, um das Duell vor dem Könige zu vertuschen.

Doris war mit ihrem Bruder nach Dresden zurückgereist; aber die Erinnerung an den Major hing nicht vom Raume ab, der zwischen den beiden Residenzstädten lag. Sie hatte sich in ihr Herz eingenistet, und darum war Doris so freudig überrascht, als sie ihn am Portale des Palais unter den anderen Officieren stehen sah. Das enge schmale Dachkämmerchen mit dem Schiebefenster erschien ihr plötzlich so begehrenswerth, daß sie der Frau Castellanin erklärte, hier gefalle es ihr.

Sie hatte es sehr beklagt, daß der Justizrath, welcher zur Schlichtung verschiedener Wirren, welche bezüglich der Auszahlung von ihrem und Willi’s Erbtheil entstanden waren, es zu deren Beseitigung für nöthig befunden hatte, der Frau Gräfin vorzustellen, daß es unumgänglich erforderlich sei, daß Doris in Dresden zurückbleibe, da es jedenfalls ihrer Unterschrift unter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 804. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_804.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)