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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Schlosse herab, um den flüchtigen Gast zu begrüßen. Den hochherzigen Fürsten schreckte die Gefahr, in die er sich hierdurch den rachsüchtigen Franzosen gegenüber begab, durchaus nicht. Jedenfalls empfand er wohl, daß ihn die Neutralität seines Fürstenthums nicht der nationalen Pflichten gegen den König des mächtigsten deutschen Staates überhob. An Stelle der müden Pferde, welche den König hierher gebracht hatten, ließ der Fürst sofort und ohne Bedenken sechs feurige Rosse aus seinem Marstalle spannen, und dann fuhr Friedrich Wilke, ein gewandter Vorreiter, voraus, beim jetzigen Palais und darauf beim Fischerhause vorüber zur Stadt hinaus und in der Richtung nach Nordhausen weiter. Jener ungewöhnliche Weg mußte gewählt werden, weil alle Straßen


Der Sommernachtstraum.
Illustrations-Probe aus der Grote’schen Shakespeare-Ausgabe.
Von P. Thumann.


durch flüchtige Soldaten und Wagen überfüllt waren. Eine Rettung des Königs im engsten Sinne des Wortes lag allerdings in der Handlung des Fürsten von Sondershausen nicht, denn das todmüde Armeecorps des Marschalls Soult blieb an diesem Abende nach dem bestandenen Gefechte bei Greußen liegen. Aber immerhin gebot die allgemeine Unsicherheit der Wege, welche schon durch jene versprengten Husaren in Greußen deutlich bekundet ward, die möglichste Eile, und gewiß entsprang die rasch entschlossene Hülfe aus einem edlen, muthigen und uneigennützigen Herzen.

Es ist für jene Zeiten charakteristisch, daß sich die Bürger von Sondershausen trotz alledem vor den Franzosen selbst sicher glaubten. „Sie können nicht durch das ‚Geschling‘,“ sagte man sich allgemein zum Troste. Und warum nicht? Weil in jenem Thale, durch welches jetzt die Chaussee und Eisenbahn nach Greußen und Erfurt führt, damals die Wege meist so grundlos waren, daß mancher Reisende Bedenken trug, dort hindurch zu fahren. Die Sondershausener hielten sich also, da sich die Neutralität nicht bewährt hatte, wenigstens durch jenen Schmutz für völlig gesichert. Am späten Abende des 16. Octobers langten auch die Flüchtlinge von Greußen in der Umgegend von Sondershausen an. Die Reste der Garde bekamen ihr Quartier in der Stadt und füllten alle Häuser. Sie mochten weder essen noch trinken, sondern nur schlafen, schlafen. Aber nach höchstens zwei Stunden wurden sie von der Alarmtrommel schon wieder geweckt, und schlaftrunken und vor Uebermüdung taumelnd mußten sie zum Abmarsche antreten.

Am folgenden Morgen, Freitag den 17. October, waren die letzten hundert Preußen, welche sich in der Neustadt oberhalb der Karngasse nothdürftig geordnet hatten, kaum abgezogen, als einige in die Stadt sprengende feindliche Chasseurs den Sondershausenern bereits die sichere Kunde brachten, daß der bewußte Schmutz im ‚Geschling‘ die Franzosen nicht vom Kommen abgehalten habe.

Gleich darauf quollen die zügellosen Schaaren, die von Greußen mit dem ersten Tagesgrauen aufgebrochen waren, von allen Enden zugleich in die friedliche Hauptstadt des neutralen Fürstenthums, und nun begannen hier dieselben Scenen, die ich schon oben geschildert habe. Mein Urgroßvater, der als Religionsschriftsteller bekannte Kirchenrath Cannabich, der Vater des Geographen, dachte gleichfalls das höflichste Volk der Welt durch einen freundlichen Empfang bezähmen zu können, mußte aber, gleich dem Pastor Zahn in Wasserthaleben, erfahren, wie es mit jener Höflichkeit bestellt sei. In einem Augenblicke seiner Uhr und, wenn ich nicht irre, auch seiner silbernen Schuhschnallen beraubt, flüchtete er eilig in seine Studirstube zurück. Eine kleine Summe in Geld rettete mein Großvater glücklich im Tintefaß. Aehnlich ging es in allen Häusern zu. Plünderung und Gewaltthat herrschten überall und nur Wenige entgingen der völligen Beraubung. Zu ihnen gehörte mein anderer Großvater, der wohlbedacht selbst alle Thüren seiner Wohnung und die Kästen aller Schränke weit öffnete und so bewirkte, daß die Plünderer nach einem flüchtigen Blicke in die Räume weiter eilten. Die Noth in der Stadt war übrigens schon gegen Mittag so groß, daß der erste Beamte des Fürstenthums, Geheimrath von Weise, zu dem meine Großmutter mit vielen anderen Frauen geflüchtet war, meinem damals fünfjährige Vater nicht einmal ein kleines Stück Brod für den ärgsten Hunger zu geben vermochte. Da nun Nachmittags noch die Schreckensnachricht auftauchte, die Stadt solle angezündet werden, so flohen viele Einwohner mit Weib und Kind in der Richtung nach Frankenhausen, kehrten aber sehr rasch wieder um, da sie auf Flüchtlinge aus allen östlich gelegenen Dörfern stießen und von ihnen erfuhren, daß es dort, wenn möglich, noch schlimmer hergehe, als in Sondershausen.

Der Marschall Soult selbst stieg auf dem Schlosse ab und wurde dort vom Fürsten so höflich empfangen und so gastlich bewirthet, daß er beim Abschiede den Fürsten recht dankbar und gerührt umarmte. Das hinderte aber den Marschall nicht, gleich nach seinem Abschiede sämmtliche achtzig Pferde des Fürsten, fast durchweg von edler Race, und unter ihnen die sechs Renner, die am Tage vorher den König gefahren hatten, aus dem Marstalle herausziehen zu lassen und mit sich zu nehmen, um so den freigebigen Wirth für seine edle Handlung noch recht empfindlich zu strafen.

Diese Scenen dauerten in Sondershausen, da den abziehenden Truppen immer neue beutegierige Schaaren folgten, bis Sonntag, den neunzehnten October, und ließen die kleine und arme Stadt völlig ausgeraubt. Erfahrene behaupten, daß sich unter den Dieben auch verrätherische Einwohner der Stadt befunden haben, von denen leider nur Einer auf dem hiesigen Vorwerk von einem Acte der Lynchjustiz ereilt wurde. Ich würde die Leser zu ermüden fürchten, wenn ich ihnen noch speciell erzählen wollte, daß an demselben Freitag, an welchem die Franzosen in Sondershausen anlangten, noch ein Gefecht mit der über Nordhausen abrückenden preußischen Nachhut bei letzterer Stadt stattfand, in welchem die Franzosen noch viele Gefangene machten und dem dann in Nordhausen dieselben Gräuelscenen folgten, die ich schon zur Genüge beschrieben habe.

Es leben jetzt nur noch wenige Augenzeugen jener Tage in Sondershausen und ihnen verdanke ich diese durchweg glaubhaften

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_199.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)