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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Kassel, hatte sich von der Secte losgesagt oder war im Begriffe es zu thun, als am 12. Juni 1874 des Nachts seine Hunde heftig anzuschlagen begannen und er ein verdächtiges Umschleichen des Hauses wahrnahm. Von Furcht ergriffen, eilte er am folgenden Tage, den 13. Juni, nach Sao Leopoldo, um bei der Behörde um Schutz zu bitten, der ihm indeß nicht rechtzeitig werden konnte, denn schon in der Nacht auf den 14. Juni, als er sein Heim noch nicht wieder erreicht hatte, brach die entsetzliche Katastrophe über seine unglückliche Familie herein. Das Haus wurde angezündet und Alle, Frau und Kinder, wurden theils niedergemacht, theils lebendig in die Flammen geworfen; nur ein halberwachsener Knabe, obgleich auch durch mehrere Schüsse verwundet, entkam in das Dickicht und konnte einige der Mörder bezeichnen, unter ihnen seinen leiblichen Onkel.

Die Anhänger Jakobinens erklären frei und offen, daß sie jedem Befehle ihrer „Christusin“ blindlings folgen, auch wenn sie Blut fordert – und sie fordert es. Wie ein ungebildetes Weib von lockerem Lebenswandel – Jakobine kann kein Geschriebenes und nothdürftig Gedrucktes lesen – solchen Einfluß auf eine so große Anzahl von Männern, die sich auf die Zahl von etwa einhundertfünfzig beläuft, gewinnen konnte, ist ein psychologisches Räthsel, um so mehr, als ihre Anhänger fast durchgängig sehr wohlhabenden Familien angehören und früher allgemein als rechtschaffene fleißige Leute bekannt waren. Man fühlt sich dieser Thatsache gegenüber versucht, an eine Art von Wahnsinn zu glauben, wie er uns in den Blättern der Geschichte zuweilen entgegentritt, z. B. in den Mittheilungen aus der Zeit der furchtbaren Hexenprocesse.

Nach der Ermordung der Kassel’schen Familie eilte der Polizei-Chef, von Militär begleitet, nach den Colonien, wo es ihnen gelang, verschiedene Häupter der Secte gefangen zu nehmen, unter ihnen den oben erwähnten Expastor Klein, sowie den „Apostel Judas“, den Mörder des armen Schneiderlehrlings. Die Erbitterung der Bewohner war so groß, daß die Polizei die Uebelthäter vor der Wut des Volkes, das keine gelinde Justiz geübt haben würde, schützen mußte.

Aber nun sollte in der Nacht des 25. Juni 1874 erst der Hauptact der Tragödie sich abspielen. Die blutgierige Megäre Jakobine hatte alle ihr mißliebigen Personen, besonders auch solche, die der Secte abtrünnig oder eines Abfalls auch nur verdächtig waren, bezeichnet und den Auftrag gegeben, dieselben zu tödten. In der erwähnten Nacht machten sich mehrere Abtheilungen der Mucker auf, um in den verschiedenen Ansiedelungen den Mordbefehl zu vollziehen.

In einem der mit der Ausführung Betrauten mochte sich aber das von Fanatismus und Wahn übertäubte Gewissen doch geregt haben, wenigstens verfügte er sich nach Sao Leopoldo, wo er, Bekenntnisse ablegend, sich unter den Schutz der Polizei stellte, um nicht das Opfer seines Abfalls zu werden.

Diese Gewissensregung rettete Vieler Leben; denn so rasch wie möglich wurden nun die verschiedenen besiedelten Linien alarmirt, sodaß die Sectirer die Pässe von den Colonisten besetzt und sich in ihrem fürchterlichen Thun gehemmt fanden. Dennoch forderte jene Mordnacht noch zahlreiche Opfer. Brandraketen, vom würdigen Expastor Klein erfunden, wurden im „Leonerhof“ in dreizehn Gehöfte geschleudert, deren Bewohner größtentheils ihren Tod in den Flammen oder durch die verruchten Mörderhände fanden. Greisinnen, Säuglinge, Niemand ward verschont; selbst die Stimme der Natur schien durch den Fanatismus gänzlich erstickt, waren doch zwei Brüder Maurer’s mit ihren Familien unter den Gemordeten, und wurden doch auch ein Onkel und zwei Neffen Jakobinens, die auch nicht an die höhere Sendung ihrer Verwandten geglaubt, ebenfalls niedergemacht. Eine Frau Hofmeister starb in Sao Leopoldo an den Verletzungen, die ihr ihr Neffe beigebracht; ihre Tochter und zwei Enkel, von derselben ruchlosen Hand verwundet, schweben noch in Lebensgefahr. Ein gewisser Johann Sehn wählte seinen eigenen Bruder zum Opfer, indem er ihm den Leib aufschnitt, tödtete auch dessen achtzigjährige Schwiegermutter, dessen Frau und viele Kinder und äscherte schließlich das Haus ein. In Sapyranga wohnte in seinem Häuschen ein siebenzigjähriger Colonist mit seinem Sohne und einer erwachsenen Tochter, die Alle ein furchtbares Schicksal traf. Das Haus wurde angezündet und der alte Mann lebendig in seinem Bette verbrannt, während der Sohn, der oben schlief und sich durch einen Sprung durch’s Fenster nach einem Sumpfe rettete, von dort aus sah, wie die Ungeheuer seine Schwester ergriffen und ihr die Brüste abschnitten.

Auch in entfernteren Anstellungen wurden mehrere Personen ermordet, und in allen fühlten sich verschiedene bedroht, da die Mucker in unerhörter Frechheit mitunter ihre Opfer vor der ihnen nahenden Gefahr benachrichtigten. Die Stadt Sao Leopoldo fand für gerathen, die ganzen Nächte hindurch Patrouillen auszuschicken, und in Porto Alegre, wo die Mucker Feuer anzulegen versuchten, hielten die angesehensten Bewohner Nachts in den Straßen Wache, besonders vor dem Gefängniß, und die Beamten thaten in den Staatsgebäuden und Bureaux ein Gleiches.

Am Fuße eines steilen hohen Berges, des Ferrabraz, gedeckt durch diesen, sowie durch Sümpfe und schwer zu durchdringende Urwälder und nur zugänglich durch zwei schmale Waldwege, liegt das früher beschriebene festungsartige Gebäude, die Wohnung Maurer’s, in die sich die Sectirer nach der Mordnacht vom 25. Juni zurückgezogen haben, entschlossen und gerüstet, wie es scheint, einer Belagerung zu trotzen, da ungeheure Vorräthe von Lebensmitteln und Munition dort aufgehäuft liegen sollen. Etwa fünfzig Mucker sind in den Händen der Polizei, während verschiedene Frauen, die sich nicht mehr mit ihren Männern in der Muckerfeste vereinigen konnten, wieder ruhig im Besitze ihrer Häuser sind, nachdem sie einige Zeit von den andern Colonisten gefangen gehalten worden, wobei sich die Thatsache nicht verschweigen läßt, daß leider – auf wessen Anstiften, ist noch nicht hinreichend bekannt – von Seiten der anderen Colonisten Wiedervergeltung geübt und verschiedene den Anhängern Jakobinens gehörige Häuser in Brand gesteckt wurden.

Nach dem Eintreffen der Kunde von den furchtbaren Vorgängen eilte der Präsident der Provinz nach Sao Leopoldo, begleitet von so vielem Militair, wie gerade zur Verfügung stand, was freilich nicht viel war, etwa hundertzwanzig Mann Infanterie und siebenzehn Mann, um die zwei Kanonen zu bedienen, die man mitführte. Oberst Genuino, der sich im Paraguaykriege sehr ausgezeichnet, erhielt die Führung der Truppe, die sich am 28. Juni in Marsch setzte. Unbekannt mit dem sehr schwierigen Terrain, mußte sich der tapfere Oberst der Leitung mehrerer Bauern anvertrauen, die, obgleich des Weges kundig und dienstbereit, doch von der Gefahr, in die sie die braven Truppen brachten, indem sie dieselben in ein eingeschlossenes Terrain führten, nicht die entfernteste Ahnung hatten. So sahen sich denn die armen Soldaten in stockfinsterer Nacht in einem engen Waldwege plötzlich von vorne, in der rechten Flanke und im Rücken angegriffen und von einem Kugelregen überschüttet, den sie nicht mit Erfolg erwidern konnten, weil sie einestheils gar nicht wußten, wo der Feind verborgen war, anderntheils dieser aber von vorne durch das befestigte Gebäude und von der Seite durch das Dickicht des Urwaldes gedeckt wurde. In Kurzem waren ein Major, zwei Hauptleute und zweiunddreißig Mann todt oder schwer verwundet. Mit den größten Schwierigkeiten wurde der Rückzug begonnen und bis nach Campo Bom durchgeführt, wo die Truppen Posto faßten, um Verstärkung zu erwarten, die nach dem maßgebenden Urtheile Genuino’s, wenigstens fünfhundert bis sechshundert Mann mit sechs Stück Geschütz betragen muß, wenn der Sturm auf das Festungstabernakel erfolgreich begonnen werden soll. Die zwei Kanonen mußte man im Stiche lassen, da die von Sao Leopoldo mitgenommenen Pferde untauglich geworden waren und die Soldaten bei den wirklich grundlosen Urwaldswegen die Geschütze nicht selbst ziehen konnten.

Traurig ist es, daß die Provinz völlig außer Stand war, den Muckeraufstand augenblicklich niederzuschlagen; es fehlte nämlich im Arsenal an Munition, sowie an passenden Kanonen, so daß der Präsident sich veranlaßt sah, nach Rio de Janeiro zu telegraphiren und um Truppen und Geschütz mit passender Munition zu bitten. Soeben ist die Verstärkung in Porto Alegre gelandet, und mit höchster Spannung sieht man der Entwicklung des blutigen Dramas entgegen.

Ich beschränke mich für diesmal auf den vorstehenden Bericht, um später den Abschluß der Ereignisse, die noch manche interessante Enthüllungen verheißen, kurz zu schildern.

Valle do Paraiso, 10. Juli 1874.
C. S.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_645.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)