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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 27.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



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Vineta.
Von E. Werner.

Der heiße Sommertag neigte sich seinem Ende entgegen. Die Sonne war bereits gesunken, nur das Abendroth weilte noch am Horizont und warf seinen glühenden Schimmer über das Meer hin, das ruhig, kaum von einem Hauche bewegt, den letzten Abglanz des scheidenden Tages empfing.

Am Strande des Badeortes C., etwas abseits von der großen Strandpromenade, wo sich, wie gewöhnlich um diese Stunde, das bunte und glänzende Gewühl der Badegäste entfaltete, lag ein einfaches Landhaus. Es zeichnete sich vor den anderen, meist viel größeren und prächtigeren Häusern und Villen des Ortes nur durch die Schönheit seiner Lage aus, denn seine Fenster boten eine unbegrenzte Aussicht über das Meer hin. Sonst stand es ziemlich einsam und abgeschlossen da und konnte wohl nur von solchen Gästen bevorzugt werden, die das geräuschvolle Badeleben von C. eher mieden als aufsuchten.

In der geöffneten Glasthür, welche auf den Balcon hinausführte, stand eine Dame in tiefer Trauerkleidung. Sie war von hoher imponirender Gestalt und konnte noch für schön gelten, obwohl sie den Höhepunkt des Lebens bereits erreicht hatte. Dieses Gesicht mit seinen fest und regelmäßig gezeichneten Linien hatte freilich wohl niemals den Reiz der Anmuth und Lieblichkeit besessen, aber eben deshalb hatten die Jahre ihm auch nichts von seiner kalten, strengen Schönheit nehmen können, die sich noch jetzt siegreich behauptete. Das tiefe Schwarz des Anzuges, der Kreppschleier über der Stirn deuteten auf einen schweren, wohl erst kürzlich erlittenen Verlust, aber man suchte vergebens eine Spur vergossener Thränen in diesen Augen, einen Schimmer von Weichheit in den energischen Zügen. War ein Schmerz dieser Frau wirklich nahe getreten, so war er entweder nicht allzu tief gefühlt worden, oder bereits überwunden.

An der Seite der Trauernden stand ein Herr, gleichfalls von vornehmem Aeußeren. Er mochte in Wirklichkeit nur einige Jahre älter als seine Nachbarin sein, und doch hatte es den Anschein, als läge mehr als ein Jahrzehnt zwischen ihnen, denn an ihm waren die Zeit und das Leben nicht so spurlos vorübergegangen. Der ernste charaktervolle Kopf mit den scharf und tief ausgeprägten Zügen schien schon manchen Sturm durchlebt zu haben; das volle dunkle Haupthaar war schon hier und da ergraut; in die Stirn grub sich Falte an Falte, und der Blick hatte etwas Düsteres, Schwermüthiges, das sich dem ganzen Antlitz des Mannes mittheilte. Er hatte bisher mit angestrengter Aufmerksamkeit auf das Meer hinausgeblickt und wendete sich jetzt mit einer Bewegung der Ungeduld ab.

„Noch immer nichts zu sehen! Sie werden schwerlich vor Sonnenuntergang zurückkehren.“

„Du hättest uns von Deiner Ankunft vorher benachrichtigen sollen,“ sagte die Dame. „Wir erwarteten Dich erst in einigen Tagen. Uebrigens ist das Boot nicht eher zu erblicken, bis es den waldigen Vorsprung dort umsegelt, und dann ist es auch in wenigen Minuten hier.“

Sie trat in das Zimmer zurück und wandte sich zu einem Diener, der im Begriff war, mehrere Reiseeffecten in eines der anstoßenden Gemächer zu tragen.

„Geh’ hinunter nach dem Strande, Pawlick!“ befahl sie, „und sobald das Boot der jungen Herrschaften landet, benachrichtige sie, daß der Herr Graf Morynski eingetroffen ist.“

Der Diener entfernte sich, dem erhaltenen Befehle gemäß. Auch Graf Morynski gab seinen Ausblick vom Balcon auf und trat in das Zimmer, wo er an der Seite der Dame Platz nahm.

„Verzeih’ die Ungeduld!“ sagte er. „Das Wiedersehen der Schwester sollte mir vorläufig wohl genug sein, aber ich habe mein Kind ja seit einem Jahre nicht gesehen.“

Die Dame lächelte. „Du wirst von dem ‚Kinde‘ nicht mehr allzu viel erblicken. Ein Jahr bedeutet viel in solchem Alter, und Wanda verspricht schön zu werden.“

„Und ihre geistige Entwickelung? Du sprachst Dich in Deinen Briefen stets mit Befriedigung darüber aus.“

„Gewiß! Sie überflügelte stets ihre Aufgaben; ich habe eher zügeln als antreiben müssen. In dieser Hinsicht blieb mir nichts zu wünschen übrig, wohl aber in einer anderen. Wanda besitzt einen stark ausgeprägten Eigenwillen und weiß ihn leidenschaftlich zu behaupten. Ich habe mir bisweilen den Gehorsam erzwingen müssen, den sie sehr geneigt war, mir zu versagen.“

Ein flüchtiges Lächeln erhellte das Gesicht des Vaters, als er entgegnete: „Ein eigenthümlicher Vorwurf in Deinem Munde! Einen Willen haben und ihn unter allen Umständen behaupten, ist ja wohl ein hervorragender Zug Deines Charakters, ein Zug unserer Familie überhaupt.“

„Der aber bei einem sechszehnjährigen Mädchen noch unter keinen Umständen zu dulden ist, denn da äußert er sich nur als Trotz und Laune,“ fiel ihm die Schwester in’s Wort. „Ich sage es Dir im Voraus, Du wirst noch öfter damit zu kämpfen haben.“

Es schien, als sei diese Wendung des Gespräches dem Grafen nicht besonders angenehm. „Ich weiß, daß ich mein Kind keinen besseren Händen übergeben konnte, als den Deinigen, sagte er ablenkend, „und deshalb freut es mich doppelt, daß Wanda jetzt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_441.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)