Seite:Die Gartenlaube (1876) 455.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Der Rabbi von Sadagóra.
Von Arnold Hilberg.


Unabsehbar breitete sich die Fläche aus, die der Herbst in seine fahlgelben und braunen Farben kleidete. Das tiefste Schweigen herrschte ringsum; nur das Rascheln der Stoppeln, das ferne Rauschen des Pruth war hörbar; rückwärts floß die Stadt auf dem Berge in pittoreske weiße Linien zusammen, von Kuppeln und Thürmchen überragt, die farbenbunt und glitzernd in der Sonne schimmerten und glänzten. Hier und da erhob sich eine halb in den Boden gesunkene, schornsteinlose Hütte mit hochgiebeligem, zerzaustem Strohdache, aus der tischplatten Ebene, ein mageres Roß knusperte die Stoppeln ab; ein zerlumpter Bauer mit spitzer Lammfellmütze trieb eine Heerde Hammel vor sich her. Alles hatte ein asiatisches Gepräge. Die Steppe ist einförmig und dem Leben, welches sich auf ihr entfaltet, prägt sie die gleiche Einförmigkeit auf; wie diese Steppe bei Czernowitz, so ist jene bei Samarkand oder Taschkend. Auch dort erhebt sich da und dort eine verfallene, strohgedeckte Hütte aus dem Boden, ein mageres Roß knuspert an den dürren Stoppeln; ein zerlumpter Hirt mit spitzer Lammfellmütze treibt eine Heerde Hammel vor sich her, und fern im Hintergrunde hebt sich in weißen Linien, von farbenbunten und glitzernden Kuppeln und Spitzen überragt, die Stadt vom tiefblauen Himmel ab.

Nach einer Stunde etwa zeigten sich neue Gestalten; bärtige Männer mit Ringellocken, in langen, schwarzseidenen Kaftans, die weißbestrumpften Füße in flachen Schuhen steckend, das Haupt mit einer spitzen hohen Sammtmütze, die ein schmaler Wulst struppigen braunen Fells umbrämte, bedeckt, schritten sinnend den Feldrain entlang. Zwei Reihen Hütten, ebenso elend und verwahrlost wie jene, die vereinzelt aus der Steppe sich erhoben, traten dicht an die Straße – ich fuhr in Sadagóra ein.

Dieser überaus armselige und verwahrloste Theil des Ortes, den der aus Czernowitz Kommende zuerst betritt, ist das „Christenviertel“ von Sadagóra; es zieht sich fast eine halbe Stunde längs der Straße hin. Dann tauchen etwas stattlichere Häuschen auf; eine Gruppe netter Villen mit hohen Fenstern, durch deren Scheiben grüne Jalousien und weiße Vorhänge schimmern oder vor welche „Marquisen“ gespannt sind, ist malerisch zwischen Baumgruppen gestreut; ein castellartiger maurischer Bau, von achteckigen rothen Thürmen flankirt, erhebt sich mitten unter ihnen, und ein weiter Park dehnt sich im Hintergrunde aus. Dieser Anlage gegenüber liegt das Gewirr der Gäßchen und Gassen des „Judenviertels“ von Sadagóra. Der Wagen hielt vor der Pforte des weißen Staketenzaunes, der die Villenanlage ihrer ganzen Ausdehnung nach umgiebt. Ich trat in den Hof der Residenz des Rabbi von Sadagóra.

In seinem weiten Raume befanden sich in diesem Augenblicke etwa zweihundert Juden, die leise sprechend auf- und abgingen, in Gruppen zusammenstanden oder auf Treppen, Prellsteinen und Bänken saßen. Keiner würdigte mich eines Blickes. Kurz entschlossen, ging ich auf die erstbeste Thür zu und ergriff die Klinke. Doch rasch trat einer von den auf den Bänken sitzenden Juden an mich heran, und leicht die Mütze lüpfend flüsterte er mir mit unterwürfig-mißtrauischer Miene in dem polnisch-jüdischen Dialekte die Frage zu: „Wus will der Herr? Ech bitt’!“

Da ich wußte, wie schwierig es sei, zum Rabbi zu gelangen, hatte ich mir vorgenommen, sein Personal einzuschüchtern und mir den Einlaß zu ertrotzen. Ich schrie also den höflichen Frager barsch an: „Zum Rabbi! Ist hier der Eingang?“

Er fuhr erschreckt zusammen, blinzelte mich argwöhnisch an und antwortete mit größter Devotion in Miene und Haltung: „Dus is nischt du; dus is dort.“ Er führte mich um die Ecke des Hauses, in das einzutreten ich versucht hatte, zu einer kleinen Hinterpforte. Ich trat in eine enge, schmutztriefende, dumpfe, von abscheulichen Gerüchen erfüllte Stube. Ein rohgezimmerter Tisch stand an dem durch Schmutzkrusten geblendeten Fenster. Ein schmutziges grobes Leinwandstück bedeckte ihn nur halb; eine halbleere Branntweinflasche und eine Schüssel mit Fleischbrocken standen darauf. Zwei Juden langten mit bloßen Fingern hastig in dieselbe hinein; sie unterbrachen ihre appetitliche Mahlzeit, als sie meiner ansichtig wurden, und traten auf mich zu. Ein Dutzend anderer war rasch durch die Thür getreten, und in compactem Klumpen gegen mich vordrängend, nöthigten sie mich, Schritt um Schritt zum Fenster zurückzuweichen. Aller Augen ruhten forschend auf mir. Endlich frug Jener, der mich in die Stube geführt, wieder: „Wus will der Herr?“

„Zum Rabbi. Ich hab’s Euch ja schon gesagt.“

„Dus geiht nischt.“

„Warum geht es nicht?“

„Er schluft itzt.“

„So werde ich warten, bis er erwacht.“

„Dann bietet er.“

„Er soll später beten.“

„Dus geiht nischt.“

„Es muß gehen. Haltet mich nicht länger auf und führt mich zum Rabbi!“ schrie ich.

„Wer is der Herr?“

„Hier ist meine Karte; geben Sie sie dem Rabbi und sagen Sie ihm, daß ich ihn durchaus sehen muß!“

Drei Juden traten zum Fenster und bemühten sich, die Karte zu entziffern. Es gelang ihnen nach einigen Minuten, die ersten zwei Buchstaben zu enträthseln.

„Ihr könnt ja nicht lesen – gebt die Karte dem Rabbi!“

„Er kenn auch nischt datschisch leinen.“

„So gebt die Karte her (ich riß sie ihnen aus den Händen) und meldet mich mündlich an!“

Sie sahen einander fragend an. Ich schritt auf eine Seitenthür der Stube zu.

„Ich gehe unangemeldet hinein. Ihr seid mir viel zu langweilig.“

„Chaswe scholem (Gott behüte!)!“ rief der Chorus und drängte sich, die Arme abwehrend gegen mich vorstreckend, zwischen mich und die Thür. Ich machte Miene, mich durch den Haufen zu drängen.

„In a Schuh,“ rief mir der Vorderste beschwichtigend zu, „wird der Herr zum Rabbi hinein derfen.“

„In einer Stunde erst? Das ist mir viel zu lange. Ich will ihn sofort sprechen.“ Ich stieß die zwei mir zunächst Stehenden zurück und drängte vor.

„Ech bitt’, in a halber Schuh –“

„In einer halben Stunde? Ist mir auch zu lang.“

„In zwanzig Minüten, in a Vertelschuh! Nu, ech bitt’!“

Ich sah auf die Uhr.

„Erst Viertel Vier. Um halb Vier gehe ich zum Rabbi hinein.“

Die Stube wurde leer. Nur der Eine, der mich hinein geführt, und noch Einer blieben zurück.

„Dus is a Stüb vün die Meschorßim (das ist eine Gesindestube),“ erklärte der Erstere, als er bemerkte, daß ich das Schnupftuch vor die Nase hielt, weil mir der abscheuliche Gestank, der den Raum erfüllte, unerträglich geworden war. „Will der Herr nit im Garten warten?“ setzte er dann hinzu.

Ich nahm den Vorschlag gern an. Wir traten wieder in den Hof hinaus; dieser war jetzt von einer ungeheuren Menschenmenge erfüllt. Es müssen sich damals mehr als zweitausend Juden in demselben befunden haben. Ein großer Theil derselben umdrängte mich mit jener ungestümen und doch halb scheuen Neugier, mit der die Neger eines centralafrikanischen Dorfes einem weißen Reisenden entgegenzueilen pflegen. Einer meiner beiden Begleiter stellte sich vor mich hin und rief mit Stentorstimme: „Aweg! Zürück!“ Die Menge theilte sich und ließ eine schmale Gasse frei, durch die wir dem Garten zuschritten. Ich fand einen schönen, wohlgehaltenen, geräumigen Garten, reich an schattigen Alleen, blumenreichen Rabatten, Lauben, Gartenhäuschen, Teichen und Fontainen. Nachdem ich ihn eine Weile betrachtet, fragte mich einer meiner beiden Begleiter: „Will der Herr den Tempel sehen?“

Wir durchschritten wieder unter den gleichen Schwierigkeiten wie früher den Hof und erreichten den castellartigen maurischen Bau. Ein schön geschnitzter und zierlich beschlagener

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_455.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)